Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
halten. Ich bin zu nervös zum Schlafen. Raven gibt mir einen Extramantel aus unserem Kleidervorrat; nachts ist es immer noch eiskalt.
Knapp hundert Meter vom Lager entfernt steht an einem leichten Abhang eine alte Betonmauer mit gespenstischen Graffitikringeln, die mich vor dem eisigen Wind abschirmen wird. Ich schmiege mich mit dem Rücken an die Mauer und umklammere den Becher mit heißem Wasser, das Raven vorhin für mich gekocht hat, um meine Finger warm zu halten. Irgendwo zwischen dem Stützpunkt in New York und hier sind meine Handschuhe verloren gegangen oder gestohlen worden, und jetzt muss ich ohne sie auskommen.
Der Mond geht auf und überzieht das Lager – die schlummernden Umrisse, die gewölbten Zelte und provisorischen Unterschlüpfe – mit einem zarten weißen Schimmer. In der Ferne ragt ein noch intakter Wasserturm wie ein stählernes Insekt auf langen dürren Beinen über den Bäumen auf. Der Himmel ist klar und wolkenlos und Tausende Sterne treiben aus der Dunkelheit. Eine Eule schreit, ein hohles, klagendes Geräusch, das durch den Wald hallt. Selbst aus dieser kurzen Entfernung sieht das Lager friedlich aus, eingehüllt in weißen Dunst, umgeben von den zersplitterten Überresten alter Häuser: eingestürzte Dächer, ein umgekippter Spielturm, dessen Plastikrutsche noch aus der Erde ragt.
Nach zwei Stunden gähne ich so stark, dass mir der Kiefer wehtut, und ich fühle mich, als wäre mein ganzer Körper mit nassem Sand angefüllt. Ich lehne den Kopf an die Mauer und kämpfe gegen die zufallenden Augenlider an. Die Sterne über mir verschwimmen … sie werden zu einem Lichtstrahl – Sonnenschein – Hana tritt aus dem Sonnenlicht, mit Blättern im Haar, und sagt: »War das nicht ein großartiger Spaß? Ich hatte nie vor, mich heilen zu lassen, weißt du …« Ihr Blick ist fest auf mich gerichtet. Als sie weitergeht, sehe ich, dass sie kurz davor ist, mit dem Fuß in eine Falle zu treten. Ich versuche sie zu warnen, aber …
Knack .
Mit einem Ruck wache ich auf, mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich kauere mich schnell und so leise wie möglich nieder. Jetzt ist es wieder still, aber ich weiß, dass ich mir das Geräusch nicht eingebildet oder es geträumt habe – das Geräusch eines knackenden Zweiges. Das Geräusch eines Schrittes.
Hoffentlich ist es Julian , denke ich. Hoffentlich ist es Tack.
Ich suche das Lager ab und sehe einen Schatten, der sich zwischen den Zelten bewegt. Ich spanne mich an und strecke langsam die Hand nach dem Gewehr aus. Meine Finger sind vor Kälte ganz unbeholfen und steif. Das Gewehr kommt mir schwerer vor als sonst.
Die Gestalt tritt in einen Fleck aus Mondlicht und ich atme auf. Es ist bloß Coral. Ihre Haut leuchtet strahlend weiß und sie trägt ein übergroßes Sweatshirt, das ich als das von Alex erkenne. Mein Magen verkrampft sich. Ich nehme das Gewehr hoch, richte den Lauf auf sie und denke: Peng .
Beschämt senke ich schnell die Waffe.
Meine früheren Leute hatten nicht ganz Unrecht. Die Liebe ist eine Art Besessenheit. Sie ist ein Gift. Und wenn Alex mich nicht mehr liebt, kann ich den Gedanken nicht ertragen, dass er jemand anderen lieben könnte.
Coral verschwindet im Wald, wahrscheinlich um zu pinkeln. Ich habe einen Krampf in den Beinen und richte mich auf. Da ich zu müde bin, um noch länger Wache zu halten, werde ich Raven wecken, die angeboten hat, mich abzulösen.
Knack . Wieder ein Schritt, diesmal näher dran und östlich des Lagers. Coral ist Richtung Norden gegangen. Augenblicklich bin ich wieder in Alarmbereitschaft.
Dann sehe ich ihn: Er schleicht langsam mit erhobenem Gewehr vorwärts, taucht aus einem dichten Nadelwäldchen auf. Ich erkenne sofort, dass es kein Schmarotzer ist. Seine Haltung ist zu perfekt, sein Gewehr zu tadellos, seine Kleidung sitzt zu gut.
Mein Herzschlag setzt aus. Ein Aufseher. Das ist die einzige Möglichkeit. Und das bedeutet, dass sie wirklich in die Wildnis vorgedrungen sind. Trotz aller Beweise hat ein Teil von mir immer noch gehofft, es sei nicht wahr.
Erst ist alles totenstill und dann entsetzlich laut, als mir das Blut in den Kopf rauscht und in meinen Ohren dröhnt. Die Nacht scheint durchdrungen von furchterregendem Geheul und fremden, wilden Schreien der Tiere, die in der Dunkelheit umherstreifen. Meine Handflächen sind schweißnass, als ich erneut das Gewehr anlege. Mein Hals ist ausgetrocknet. Ich finde den Aufseher, der sich an das Lager anschleicht, im Sucher. Ich lege
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