Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
würden sie gehorchen. Er war naiv.« Fred dreht sich wieder zu mir, doch die Dunkelheit hat sein Gesicht verschluckt. »Er hat nicht verstanden, dass die Menschen stur und dumm sind. Sie sind irrational. Sie sind zerstörerisch. Darum geht es doch, nicht wahr? Das genau ist doch der Grund für das Heilmittel. Dass die Menschen nicht länger selbst ihr Leben zerstören. Dazu sind sie dann nicht mehr in der Lage. Verstehst du das?«
»Ja.« Ich muss an Lena denken und an die Bilder der Wildnis in Flammen. Ich frage mich, was sie jetzt wohl tun würde, wenn sie hiergeblieben wäre. Sie würde tief in einem anständigen Bett schlafen; sie würde morgen aufstehen, wenn die Sonne über der Bucht aufgeht.
Fred dreht sich wieder zum Fenster und seine Stimme wird stahlhart. »Wir waren zu lax. Wir haben zu viel Freiheit gewährt und zu viel Gelegenheit zur Rebellion. Das muss aufhören. Das werde ich nicht länger zulassen; ich werde nicht dabei zusehen, wie meine Stadt und mein Land von innen zerstört werden. Damit ist Schluss.«
Obwohl jetzt dreißig Zentimeter zwischen Fred und mir liegen, habe ich genauso viel Angst vor ihm wie vorhin, als er meinen Schenkel umklammerte. So habe ich ihn auch noch nie erlebt – hart und fremd.
»Was hast du vor?«, frage ich.
»Wir brauchen ein System«, sagt er. »Wir werden die Leute, die sich an die Regeln halten, belohnen. Es ist im Grunde dasselbe Prinzip, wie wenn man einen Hund dressiert.«
Die Frau auf der Party fällt mir wieder ein: Sie sieht aus, als käme sie mit einem ganzen Wurf klar.
»Und wir werden diejenigen bestrafen, die sich nicht anpassen. Natürlich nicht körperlich. Wir leben hier schließlich in einem zivilisierten Land. Ich habe vor, Douglas Finch zum neuen Energiedezernenten zu berufen.«
»Energiedezernent?«, wiederhole ich. Den Begriff habe ich noch nie gehört.
Wir kommen an eine Ampel – eine der wenigen, die im Zentrum noch in Betrieb sind. Fred macht eine unbestimmte Geste in ihre Richtung.
»Strom gibt es nicht umsonst. Energie gibt es nicht umsonst. Man muss sie sich verdienen. Elektrizität – Licht, Wärme – gibt es für die Menschen, die sie sich verdient haben.«
Einen Moment fällt mir nichts ein, was ich darauf erwidern könnte. Stromsperren während bestimmter Nachtstunden waren schon immer gesetzlich vorgeschrieben und in den ärmeren Gegenden verzichten viele Familien besonders jetzt auf Spül- und Waschmaschinen. Es ist einfach zu teuer.
Aber jeder hatte immer ein Recht auf Elektrizität.
»Wie?«, frage ich schließlich.
Fred versteht meine Frage wörtlich. »Das ist eigentlich ganz einfach. Das Netz steht bereits und es läuft ja heute alles per Computer. Es geht einfach darum, die nötigen Daten zu sammeln und ein paar Tasten zu drücken. Ein Klick schaltet den Saft an; ein Klick schaltet ihn ab. Finch wird sich um all das kümmern. Und jedes halbe Jahr oder so können wir die Leute neu beurteilen. Wir wollen ja fair sein. Wie gesagt, wir leben hier in einem zivilisierten Land.«
»Es wird zu Aufständen kommen«, sage ich.
Fred zuckt mit den Schultern. »Ich erwarte ein gewisses Maß an anfänglichem Widerstand«, erklärt er. »Deshalb ist es so wichtig, dass du mich unterstützt. Sobald wir die richtigen Leute hinter uns haben – die wichtigen Leute –, werden alle anderen sich uns ebenfalls anschließen. Das müssen sie einfach.« Fred greift nach meiner Hand. Er drückt sie. »Sie werden die Erfahrung machen, dass Aufruhr und Widerstand alles nur noch schlimmer machen. Wir brauchen eine Null-Toleranz-Strategie.«
In meinem Kopf dreht sich alles. Kein Strom bedeutet kein Licht, kein Kühlschrank, kein funktionierender Herd. Keine Heizung.
»Wie werden die Leute heizen können?«, platze ich heraus.
Fred lacht nachsichtig, als wäre ich ein Welpe, der gerade einen neuen Trick gelernt hat. »Es ist bald Sommer«, sagt er. »Ich glaube nicht, dass sie heizen wollen.«
»Aber was, wenn es kalt wird?«, hake ich nach. In Maine dauern die Winter oft von September bis Mai. Letztes Jahr lag der Schnee zwei Meter hoch. Ich muss an die dürre Grace mit ihren Ellbogen wie Türknäufe und ihren Schulterblättern wie spitze Flügel denken. »Was machen sie dann?«
»Vermutlich werden sie feststellen, dass einen die Freiheit nicht warm hält«, sagt er und ich kann das Lächeln in seiner Stimme geradezu hören. Er beugt sich vor und klopft erneut ans Fenster zum Fahrer. »Wie wär’s mit ein bisschen Musik? Mir
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