Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Verstanden?«
Pike spuckt auf die Erde. Keiner sagt etwas.
»Also gut«, fährt Raven fort. »Los geht’s.«
Die Gruppe teilt sich schnell und wortlos auf. Leute huschen an mir vorbei und werden zu Schatten, die mit der Dunkelheit verschmelzen. Ich dränge mich zu Raven durch, die jetzt neben dem toten Aufseher kniet und ihn nach Waffen, Geld oder was uns sonst so von Nutzen sein könnte, durchsucht.
»Raven.« Ihr Name bleibt mir im Hals stecken. »Glaubst du …?«
»Sie kommen schon klar«, sagt sie, ohne aufzusehen. Sie weiß, dass ich nach Julian und Tack fragen wollte. »Und jetzt verschwinde von hier.«
Ich laufe durch das Lager, finde meinen Rucksack am Rand der Feuergrube, zusammen mit anderen auf einem Haufen. Ich werfe ihn mir über die rechte Schulter; der Riemen schneidet mir neben dem Gewehr schmerzhaft ins Fleisch. Ich schnappe mir zwei weitere Rucksäcke und werfe sie mir über die linke Schulter.
Raven läuft an mir vorbei. »Wir müssen los, Lena.« Sie verschwindet ebenfalls in der Dunkelheit.
Ich stehe auf, dann sehe ich, dass jemand am Vorabend das Verbandsmaterial ausgepackt hat. Wenn irgendetwas passiert – wenn wir doch fliehen müssen und nicht zurück können – werden wir die Sachen brauchen.
Ich setze einen der Rucksäcke ab und knie mich hin.
Die Aufseher kommen näher. Ich kann jetzt einzelne Stimmen unterscheiden, einzelne Wörter. Mir wird plötzlich bewusst, dass das ganze Lager vollkommen leer ist. Ich bin die Einzige, die noch da ist.
Ich ziehe den Reißverschluss des Rucksacks auf. Meine Hände zittern. Ich zerre ein Sweatshirt heraus und stopfe stattdessen Pflaster und Antibiotika hinein.
Plötzlich legt sich eine Hand schwer auf meine Schulter.
»Was zum Teufel machst du da?« Es ist Alex. Er packt mich unterm Arm und reißt mich hoch. Ich kann gerade noch den Reißverschluss des Rucksacks zuziehen. »Los.«
Ich versuche ihm meinen Arm zu entwinden, aber er hält mich fest umklammert und zerrt mich geradezu in den Wald, weg vom Lager. Mir fällt die Razzianacht in Portland wieder ein, als Alex mich genauso durch ein schwarzes Labyrinth aus Räumen geführt hat; als wir uns auf dem nach Pisse stinkenden Boden eines Schuppens zusammenkauerten und er mit sanften, starken Händen, die sich fremd auf meiner Haut anfühlten, vorsichtig mein verletztes Bein verband.
In jener Nacht hat er mich geküsst.
Ich schiebe die Erinnerung weg.
Wir stolpern einen steilen Abhang hinunter, dessen modrige Schicht aus Lehm und feuchten Blättern uns einsinken lässt, und auf eine vorstehende Felszunge zu, die eine natürliche Höhle bildet, eine ausgehöhlte Stelle am Hang. Alex zieht mich in die Hocke und schubst mich geradezu in die kleine, dunkle Öffnung.
»Pass auf.« Pike ist auch dort – ein paar glänzende Zähne, ein Stück massive Dunkelheit. Er rutscht ein Stück zur Seite, um uns Platz zu machen. Alex setzt sich mit angezogenen Knien neben mich.
Die Zelte stehen nicht weiter als fünfzehn Meter von uns entfernt oben auf dem Hügel. Ich spreche ein lautloses Gebet, bitte darum, dass die Aufseher denken, wir seien geflohen, und keine Zeit mit Suchen verschwenden wollen.
Das Warten ist eine Qual. Die Stimmen aus dem Wald sind weniger geworden. Die Aufseher bewegen sich jetzt bestimmt ganz langsam vorwärts, schleichen sich an, rücken näher. Vielleicht sind sie sogar schon im Lager und bahnen sich einen Weg zwischen den Zelten hindurch, tödliche, schweigende Schatten.
Die Höhle ist zu eng, die Dunkelheit unerträglich. Plötzlich fühle ich mich wie in einem Sarg.
Alex neben mir bewegt sich. Sein Handrücken streicht über meinen Arm. Mein Hals wird ganz trocken. Sein Atem geht schneller als üblich. Ich erstarre, werde stocksteif, bis er seine Hand zurückzieht. Es muss ein Versehen gewesen sein.
Weiterhin quälendes Schweigen. Pike murmelt: »Das ist doch bescheuert.«
»Pssst«, fährt Alex ihn an.
»Hier zu hocken wie die Ratten in der Falle …«
»Pike, ich schwöre dir …«
»Haltet beide die Klappe«, flüstere ich heftig. Wir verfallen wieder in Schweigen. Nach ein paar Sekunden schreit jemand. Alex spannt sich an. Pike nimmt das Gewehr von der Schulter, wobei er mich mit dem Ellbogen in die Seite stößt. Ich verkneife mir einen Schmerzensschrei.
»Sie sind abgehauen.« Die Stimme dringt aus dem Lager zu uns herab. Sie sind also angekommen. Ich nehme an, jetzt, da sie die leeren Zelte entdeckt haben, halten sie es nicht länger für nötig,
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