Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
sich die Träne zu verjüngen beginnt.
»Warum?«, fragt Raven. Ihre Miene ist wieder lebendig, wachsam. Es durchläuft mich kalt, als ich sie ansehe. Sie lebt für das hier – den Krieg, den Kampf ums Überleben. Es macht ihr sogar Spaß!
Pippa zuckt die Schultern. »Es kommt mir am wahrscheinlichsten vor. In diesem Teil der Stadt ist ein großer Park – vermutlich haben sie ihn einfach komplett geflutet, den Wasserlauf umgeleitet. Sie werden dort natürlich Wachen aufgestellt haben, aber wenn sie genug Leute hätten, um uns zu besiegen, hätten sie uns schon längst angegriffen. Es sind höchstens so viele Streitkräfte, wie sie in ein oder zwei Wochen zusammengezogen haben können.«
Sie sieht zu uns auf, um sich zu vergewissern, dass wir ihr folgen können. Dann zeichnet sie in einem weiten Bogen um den unteren Teil der Träne einen nach oben weisenden Pfeil. »Wahrscheinlich rechnen sie damit, dass wir nach Norden gehen, in Richtung des Wasserlaufs. Oder sie glauben, dass wir uns zerstreuen.« Sie zeichnet Linien, die vom unteren Teil der Träne in verschiedene Richtungen wegführen; jetzt sieht die Zeichnung aus wie das lächelnde bärtige Gesicht eines Wahnsinnigen. »Ich denke, dass wir stattdessen direkt angreifen, einen kleinen Trupp in die Stadt schicken und den Damm sprengen sollten.« Sie zeichnet eine schwungvolle Linie durch die Träne und teilt sie damit mittendurch.
»Ich bin dabei«, sagt Raven. Tack spuckt aus. Er muss nicht extra erwähnen, dass er auch dabei ist.
Summer verschränkt die Arme und sieht auf Pippas Zeichnung hinab. »Wir brauchen drei verschiedene Gruppen«, sagt sie langsam. »Zwei zur Ablenkung, um an verschiedenen Stellen für Unruhe zu sorgen, und einen kleineren Trupp, der reingeht, die Sache erledigt und wieder verschwindet.«
»Ich bin dabei«, meldet sich Lu zu Wort. »Solange ich Teil des Haupttrupps sein kann. Ich will nichts mit diesem nebensächlichen Kram zu tun haben.«
Das überrascht mich. An unserem früheren Stützpunkt war Lu nie daran interessiert, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen. Sie hat sich noch nicht mal eine falsche Eingriffsnarbe machen lassen. Sie wollte sich so weit wie möglich aus den Kämpfen raushalten; am liebsten hätte sie so getan, als gäbe es die andere Seite, die geheilte, nicht. In den Monaten, die wir getrennt waren, muss sich irgendetwas verändert haben.
»Lu kann mit uns kommen.« Raven grinst. »Sie ist ein wandelnder Glücksbringer. Da hat sie auch ihren Namen her. Stimmt’s, Lucky?«
Lu antwortet nicht.
»Ich möchte auch Teil des Haupttrupps sein«, sagt Julian plötzlich.
»Julian«, flüstere ich. Er beachtet mich nicht.
»Ich gehe dahin, wo ihr mich braucht«, sagt Alex. Julian wirft ihm einen Blick zu und ich spüre die Abneigung zwischen ihnen, wie eine rohe, harte Kraft.
»Ich auch«, sagt Coral.
»Auf uns könnt ihr auch zählen.« Hunter spricht für sich selbst und für Bram.
»Ich will das Streichholz anzünden«, sagt Dani.
Jetzt fallen auch andere ein und melden sich für verschiedene Aufgaben. Raven sieht mich an. »Was ist mit dir, Lena?«
Ich kann Alex’ Blick auf mir spüren. Mein Mund ist ganz trocken; die Sonne blendet so. Ich sehe zur Seite, zu den Hunderten und Aberhunderten Menschen, die aus ihren Häusern und aus ihren Leben an diesen staubigen, schmutzigen Ort getrieben wurden, nur weil sie die Macht wollten, selbst zu fühlen, zu denken, zu entscheiden. Sie konnten nicht wissen, dass selbst das eine Lüge war – dass wir uns in Wirklichkeit nie frei entscheiden, nicht ganz. Wir werden immer in die eine oder andere Richtung gedrängt und geschubst. Wir haben keine andere Wahl, als einen Schritt nach vorn zu machen und dann noch einen und noch einen; und plötzlich finden wir uns in einer Situation wieder, für die wir uns überhaupt nicht entschieden hatten.
Aber vielleicht liegt das Glück nicht in der freien Entscheidung. Vielleicht liegt es in der Fiktion – in der Illusion, dass wir dort, wo wir landen, die ganze Zeit hinwollten.
Coral verlagert ihr Gewicht und legt ihre Hand auf Alex’ Arm.
»Ich gehe mit Julian«, sage ich schließlich. Denn das ist es nun mal, wofür ich mich entschieden habe.
hana
B
evor ich mich auf den Heimweg mache, fahre ich noch eine Weile ziellos durch die Straßen in der Gegend um Old Port und versuche Lena und meine Schuldgefühle aus dem Kopf zu kriegen; versuche Freds Stimme aus dem Kopf zu kriegen: Cassie hat zu viele Fragen
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