Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
nicht, sondern bricht vielmehr auseinander. Der Horizont ist ziegelrot, der Rest des Himmels von knallroten Schlieren durchzogen.
Der Fluss ist bis auf ein knappes Rinnsal versiegt. Es brechen Kämpfe um das Wasser aus. Pippa warnt uns, ihren Abschnitt nicht zu verlassen, und postiert Wachen rundherum. Summer ist bereits weitergezogen. Entweder weiß Pippa nicht, wo sie hingegangen ist, oder sie behält es für sich.
Schließlich entscheidet Pippa: Je weniger Leute wir einbeziehen, desto geringer ist die Gefahr, dass die Sache schiefgeht. Die besten Kämpfer – Tack, Raven, Dani und Hunter – werden für die Hauptaktion verantwortlich sein: zum Damm zu gelangen, wo auch immer er sein mag, und ihn zu sprengen. Lu will sie unbedingt begleiten, genau wie Julian, und obwohl keiner von beiden kampferfahren ist, gibt Raven nach.
Ich könnte sie umbringen.
»Wir brauchen ja auch Wachen«, sagt sie. »Leute, die Schmiere stehen. Keine Sorge, ich bringe ihn heil zurück.«
Alex, Pippa, Coral und einer aus Pippas Gruppe mit dem Spitznamen Beast – ich kann nur vermuten, dass der Grund dafür seine schwarze Zottelmähne ist und der dunkle Bart, der seinen Mund verdeckt – bilden einen der beiden Ablenkungstrupps. Irgendwie finde ich mich in der Rolle wieder, den anderen anzuführen. Bram wird mich unterstützen.
»Ich wollte eigentlich bei Julian bleiben«, sage ich zu Tack. Ich traue mich nicht, mich direkt bei Pippa zu beschweren.
»Ach ja? Tja, ich wollte heute Eier mit Speck frühstücken«, entgegnet er, ohne den Blick zu heben. Er dreht sich gerade eine Zigarette.
»Nach allem, was ich für euch getan habe«, sage ich, »behandelst du mich immer noch wie ein Kind.«
»Nur, wenn du dich wie eins verhältst«, erwidert er mit scharfer Stimme und mir fällt der Streit ein, den ich mal mit Alex geführt habe, vor einer halben Ewigkeit, nachdem ich herausgefunden hatte, dass meine Mutter mein ganzes Leben über in den Grüften gefangen gehalten wurde. Ich habe schon lange nicht mehr an diesen Moment und Alex’ plötzlichen Ausbruch gedacht. Das war direkt, bevor er mir zum ersten Mal gesagt hat, dass er mich liebt. Das war direkt, bevor ich das Gleiche zu ihm gesagt habe.
Ich verliere plötzlich das Gefühl für Raum und Zeit und muss mir die Nägel in die Handflächen bohren, bis ich einen kurzen Schmerz verspüre. Ich verstehe nicht, wie sich das Leben immer wieder verändert, wie eine Schicht zur anderen kommt. Unmöglich. An einem gewissen Punkt explodieren wir bestimmt alle.
»Hör zu, Lena.« Jetzt hebt Tack den Kopf. »Wir bitten dich darum, weil wir dir vertrauen. Du bist eine Anführerin. Wir brauchen dich.«
Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme überrascht mich und mir fällt keine Antwort ein. In meinem alten Leben war ich nie eine Anführerin. Hana war die Anführerin. Ich bin ihr gefolgt. »Wann hört das alles endlich auf?«, frage ich schließlich.
»Ich weiß es nicht«, sagt Tack. Ich höre zum ersten Mal, dass er zugibt, etwas nicht zu wissen. Er versucht seine Zigarette fertig zu drehen, aber seine Hände zittern. Er muss aufhören und noch mal von vorn anfangen. »Vielleicht nie.« Schließlich gibt er auf und wirft die Zigarette verärgert weg. Einen Moment stehen wir schweigend da.
»Bram und ich brauchen noch einen Dritten«, sage ich schließlich. »Dann haben wir noch jemanden zur Unterstützung, falls irgendwas passiert, falls einem von uns etwas zustößt.«
Tack sieht mich erneut an. Mir wird wieder bewusst, dass er auch noch jung ist – vierundzwanzig, hat Raven mir mal gesagt. In diesem Moment sieht er auch so aus. Er sieht aus wie ein dankbares Kind, als hätte ich ihm gerade angeboten, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Dann ist der Moment vorbei und sein Gesichtsausdruck verhärtet sich wieder. Er holt sein Päckchen Tabak und das Zigarettenpapier heraus und fängt noch mal an. »Ihr könnt Coral mitnehmen«, sagt er.
Der Teil der Mission, vor dem ich am meisten Angst habe, ist der Weg durch das Lager. Bram trägt die batteriebetriebene Lampe, die Pippa uns gegeben hat. In ihrem zuckenden Schein zerbricht die Menge um uns herum in Stücke und Fragmente: ein aufblitzendes Grinsen, eine barbrüstige Frau, die ein Baby stillt und uns böse anstarrt. Die Menschenmenge teilt sich gerade so, um uns hindurchzulassen, und schließt und formiert sich hinter uns wieder. Ich spüre ihr dringendes Bedürfnis fast körperlich: Das Stöhnen, das geflüsterte Wasser, Wasser hat
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