Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Platz, um sich zu rühren, unmöglich, die Hand vor den Mund zu legen. Ich bin nicht zum ersten Mal dankbar dafür, nur eins siebenundfünfzig groß zu sein; das erlaubt mir wenigstens, mich zwischen den Leuten hindurchzuzwängen, und ich kämpfe mich als Erste von uns zum Ende des Gedränges durch und tauche am steilen, steinigen Flussufer auf, während die Menschenmenge hinter mir weiter anschwillt und sich auf den Fluss zuschiebt.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Wasserstand ist extrem niedrig – der Fluss ist nicht mehr als ein Rinnsal, gerade mal dreißig Zentimeter breit und höchstens ebenso tief, und fast gänzlich verschlammt. In Richtung Waterbury ist der sich windende Fluss mit einem Gewimmel aus Menschen gefüllt, die verzweifelt ins Flussbett drängen, um ihre Wasserbehälter zu füllen. Aus der Entfernung sehen sie aus wie Insekten.
»Was zum Teufel?« Auch Raven hat sich einen Weg zum Ufer gebahnt und steht fassungslos neben mir.
»Das Wasser versiegt«, sage ich. Angesichts des trägen Stroms aus Matsch gerate ich in Panik. Plötzlich ist mein Durst größer denn je.
»Unmöglich«, sagt Raven. »Pippa hat gesagt, dass gestern noch jede Menge Wasser im Fluss war.«
»Wir holen uns besser, was wir kriegen können«, sagt Tack. Er, Hunter und Bram haben sich inzwischen auch durch die Menge gedrängt. Julian folgt ihnen. Sein Gesicht ist rot verschwitzt, die Haare kleben ihm an der Stirn. Einen Moment durchbohrt mich seinetwegen ein Stich. Ich hätte ihn nie bitten sollen, mit mir hierherzukommen; ich hätte ihn nie bitten sollen, die Grenze zu überqueren.
Immer mehr Menschen strömen hinunter zum Fluss und kämpfen um das bisschen, was noch übrig ist. Wir haben keine Wahl; wir müssen mitkämpfen. Als ich ins Wasser trete, stößt mich jemand zur Seite und ich kippe nach hinten und lande unsanft auf den Felsen. Der Schmerz fährt mir in den Rücken und trotz mehrerer Versuche gelingt es mir nicht wieder aufzustehen. Zu viele Leute drängen an mir vorbei und schubsen mich. Schließlich kämpft sich Julian durch die Menge bis zu mir zurück und hilft mir auf.
Letzten Endes kriegen wir nur einen Bruchteil des Wassers, das wir eigentlich wollten, und verlieren auf dem Rückweg zu Pippas Lager auch noch etwas davon, als ein Mann Hunter anrempelt, und einer seiner Eimer umkippt. Das Wasser, das wir geschöpft haben, ist mit feinem Schlick durchsetzt und es wird noch weniger werden, sobald wir den Schlamm abgekocht haben. Beim Gedanken an die Wasserverschwendung könnte ich heulen.
Pippa und die Frau von der Widerstandsbewegung stehen inmitten eines kleinen Kreises aus Leuten. Außer Dani sind auch Alex und Coral da. Ich kann nicht umhin, darüber nachzudenken, wo die beiden wohl zusammen gewesen sind. Idiotisch, es gibt schließlich so viel anderes, was mich beunruhigt; aber trotzdem kehrt mein Verstand immer wieder zu diesem Gedanken zurück.
Amor deliria nervosa: Sie beeinträchtigt den Verstand, bis man nicht mehr in der Lage ist, klar zu denken oder rationale Entscheidungen über das eigene Wohlergehen zu treffen. Symptom Nummer zwölf.
»Der Fluss …«, hebt Raven an, als wir näher kommen, aber Pippa unterbricht sie.
»Wir haben es schon gehört«, sagt sie mit verbissener Miene. Jetzt, bei Tageslicht, sehe ich, dass Pippa älter ist, als ich dachte. Ich hatte sie auf Anfang dreißig geschätzt, aber ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen und ihre Haare sind an den Schläfen grau. Aber vielleicht ist das auch nur das Ergebnis davon, hier zu leben, in der Wildnis, und diesen Krieg zu führen. »Er fließt nicht mehr.«
»Was soll das heißen?«, fragt Hunter. »Ein Fluss hört doch nicht über Nacht auf zu fließen.«
»Wenn er gedämmt wird, schon«, entgegnet Alex.
Einen Moment herrscht Schweigen.
»Was soll das heißen, gedämmt ?« Julian meldet sich als Erster zu Wort. Er versucht auch, die Panik zu unterdrücken. Ich kann es in seiner Stimme hören.
Alex starrt ihn an. »Gedämmt«, wiederholt er. »Wie aufgestaut. Blockiert. Unterbrochen, durch ein …«
»Aber wer hat ihn gedämmt?«, fällt Julian ihm ins Wort. Er weigert sich Alex anzusehen, aber Alex antwortet trotzdem.
»Das ist ja wohl offensichtlich, oder?« Er verlagert leicht sein Gewicht, sieht Julian nun direkt an. Es liegt eine elektrische Spannung in der Luft. »Die Leute von der anderen Seite.« Er hält kurz inne. » Deine Leute.«
Julian verliert immer noch nicht leicht die Beherrschung. Er klappt
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