Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
gestellt.
Ich fahre auf dem Bürgersteig und trete, so schnell ich kann, als könnte ich meine Gedanken durch die Füße hinaustreiben. In knapp zwei Wochen werde ich nicht mal mehr diese Freiheit haben; ich werde zu bekannt sein, zu sichtbar, immer unter Beobachtung. Schweiß rinnt mir über die Kopfhaut. Eine alte Frau tritt aus einem Geschäft und ich kann gerade noch ausweichen, vom Bürgersteig holpern und zurück auf die Straße schießen, um sie nicht umzufahren.
»Rücksichtsloses Gör!«, brüllt sie.
»Tut mir leid!«, rufe ich über die Schulter, aber die Wörter werden vom Wind hinweggetragen.
Dann, wie aus dem Nichts, springt mich ein bellender Hund an, ein riesiger Fleck aus schwarzem Fell. Ich reiße den Lenker nach rechts und verliere das Gleichgewicht. Ich stürze vom Rad, komme mit dem Ellbogen auf dem Boden auf und rutsche einen Meter weiter, während der Schmerz meine rechte Seite durchfährt. Mein Fahrrad knallt neben mir auf den Boden, schlittert über den Asphalt, jemand schreit und der Hund bellt immer noch. Einer meiner Füße hat sich in den Speichen des Vorderrads verkeilt. Der Hund umkreist mich hechelnd.
»Alles in Ordnung?« Ein Mann kommt schnell über die Straße. »Böser Hund«, sagt er und gibt dem Tier einen heftigen Schlag auf den Kopf. Der Hund zieht sich winselnd ein paar Schritte zurück.
Ich setze mich auf und befreie meinen Fuß vorsichtig aus dem Rad. Mein rechter Arm und mein rechtes Schienbein sind aufgeschürft, aber wundersamerweise scheine ich mir nichts gebrochen zu haben. »Mir geht’s gut.« Ich stehe vorsichtig auf, lasse langsam die Fuß- und Handgelenke kreisen, um zu sehen, ob es wehtut. Nichts.
»Sie sollten aufpassen, wo Sie hinfahren«, sagt der Mann. Er sieht ärgerlich aus. »Sie hätten tot sein können.« Dann marschiert er die Straße hinunter und pfeift nach seinem Hund, der mit gesenktem Kopf hinter ihm hertrottet.
Ich hebe mein Fahrrad auf und schiebe es auf den Bürgersteig. Die Kette ist abgesprungen und der Lenker ist leicht verbogen, aber abgesehen davon scheint es in Ordnung zu sein. Als ich mich bücke, um die Kette wieder aufzuziehen, stelle ich fest, dass ich direkt vor dem Zentrum für Organisation, Forschung und Erziehung gelandet bin. Ich muss in der vergangenen Stunde darum gekreist sein.
Das ZOFE verwaltet die öffentlichen Archive Portlands: zum einen die Gründungsdokumente seiner Unternehmen, aber ebenso die Namen, Geburtsdaten und Adressen seiner Bürger, Kopien ihrer Geburts- und Heiratsurkunden, medizinische und zahnmedizinische Unterlagen, Verstöße dagegen, Zeugnisse, die Resultate der jährlichen Überprüfungen sowie die Ergebnisse der Evaluierung und die Partnerlisten.
Eine offene Gesellschaft ist eine gesunde Gesellschaft; Transparenz ist die Grundlage für Vertrauen. So steht es in Das Buch Psst . Meine Mutter fasste es in andere Worte: Nur Leute, die etwas zu verbergen haben, legen Wert auf Privatsphäre.
Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, schließe ich mein Fahrrad an einer Straßenlaterne an und gehe die Treppe hinauf. Ich trete durch die Drehtür und finde mich in einer großen, schlichten Eingangshalle mit grauen Linoleumfliesen und summenden Lampen wieder.
Hinter einem Tisch aus Holzimitat sitzt eine Frau vor einem altmodischen Computer. Dahinter versperrt eine schwere Kette eine offene Tür, an der ein großes Schild hängt: zutritt nur für personal und autorisierte zofe-mitarbeiter .
Die Frau würdigt mich kaum eines Blickes, als ich mich ihrem Schreibtisch nähere. Ein kleines Plastikschild weist sie aus: tanya bourne, sicherheitsdienst . »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie mit monotoner Stimme. Sie hat mich nicht erkannt.
»Das hoffe ich«, entgegne ich mit fröhlicher Stimme, lege die Hände auf den Schreibtisch und zwinge sie, mich anzusehen. Lena hat das immer meinen Staubsaugervertreter-Blick genannt. »Wissen Sie, ich heirate bald und habe Cassie total vergessen, und jetzt habe ich kaum noch Zeit, sie ausfindig zu machen …«
Die Frau seufzt und setzt sich auf ihrem Stuhl zurecht.
»Und Cassie muss einfach dabei sein. Selbst, wenn wir schon seit … na ja, sie hat mich auch zu ihrer Hochzeit eingeladen und es wäre einfach nicht nett, oder?« Ich kichere.
»Miss?«, fordert sie mich gelangweilt auf.
Ich kichere wieder. »Oh, Entschuldigung. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir – das Quasseln. Wahrscheinlich bin ich einfach bloß nervös, wissen Sie, wegen der Hochzeit
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