Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
in Schuss. Die hohe Betonmauer ist unbeschädigt und sauber. Die Scheinwerfer sind funktionaler und zahlreicher. Riesige, weit aufgerissene, blendende Augen stehen im Abstand von fünf oder zehn Metern.
Hinter den Scheinwerfern erkenne ich die schwarzen Umrisse hoch aufragender Wohnblocks, Gebäude mit gläsernen Fronten und Kirchturmspitzen. Wir nähern uns offenbar dem Stadtzentrum, einer Gegend, die im Unterschied zu einigen der abgelegeneren Wohngebiete der Stadt nicht vollständig evakuiert worden ist.
Adrenalin breitet sich in mir aus und ich bin hochgradig wachsam. Mir wird plötzlich bewusst, dass die Nacht überhaupt nicht lautlos ist. Ich höre überall Tiere um uns herumhuschen, das Trappeln kleiner Körper, die zwischen den Blättern rascheln.
Dann plötzlich höre ich gedämpfte Stimmen, die sich mit den Waldgeräuschen vermischen.
»Bram«, flüstere ich. »Knips die Lampe aus.«
Das tut er. Wir bleiben stehen. Die Grillen zirpen, teilen die Luft in Stücke, zählen die Sekunden ab. Ich kann Corals flachen, verzweifelten Atem hören. Sie hat Angst.
Dann wieder Stimmen und verwehtes Gelächter. Wir halten uns dicht am Wald, verborgen in einem breiten Keil aus Dunkelheit zwischen zwei Scheinwerfern. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, sehe ich ein winziges Licht – ein orangefarbenes Glühwürmchen – über der Mauer schweben. Es leuchtet auf, verblasst, dann leuchtet es wieder auf. Eine Zigarette. Da ist eine Wache.
Wieder durchbricht Gelächter die Stille, lauter diesmal, und eine Männerstimme sagt: »Auf keinen Fall.« Wachen , mehrere.
In Ordnung. Es gibt Ausgucke auf dem Weg. Das ist gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht. Mehr Wachen bedeutet mehr Leute, die Alarm auslösen können. Aber es macht es auch gefährlicher, in die Nähe der Mauer zu kommen.
Ich gebe Bram ein Zeichen weiterzugehen. Jetzt, wo die Lampe aus ist, können wir uns nur langsam bewegen. Ich werfe wieder einen Blick auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten.
Dann sehe ich es: eine Metallkonstruktion, die wie ein überdimensionierter Vogelkäfig über der Mauer aufragt. Ein Alarmturm. Manhattan, das eine ähnliche Mauer wie diese hatte, hatte auch so welche. Im Inneren des Drahtkäfigs befindet sich ein Hebel, der in der ganzen Stadt Alarm auslöst und Aufseher und Polizisten an die Grenze beordert.
Der Alarmturm befindet sich glücklicherweise in einem der dunklen Abschnitte zwischen zwei Scheinwerfern. Trotzdem ist es ziemlich wahrscheinlich, dass an dieser Stelle der Grenze Wachen postiert sind, auch wenn wir sie nicht sehen können. Der obere Teil der Mauer ist ein massiger Schatten und dort könnten sich Aufseher in unbegrenzter Zahl versteckt halten.
Ich flüstere Bram und Coral zu, dass sie stehen bleiben sollen. Wir sind noch immer gut dreißig Meter von der Mauer entfernt und im Schatten der aufragenden Nadelbäume und Eichen verborgen.
»Wir lassen unsere Bombe so nah am Alarmturm detonieren wie möglich«, sage ich mit leiser Stimme. »Wenn die Explosion nicht den Alarm auslöst, werden es die Wachen tun. Bram, du musst einen der Scheinwerfer da vorne ausschießen. Aber nicht zu weit entfernt. Wenn da Wachen im Turm sind, sollen sie ihre Position verlassen. Ich muss näher ran, bevor ich das Ding hier werfen kann.« Ich nehme den Rucksack ab.
»Und was mache ich?«, fragt Coral.
»Bleib hier«, sage ich. »Steh Schmiere. Deck mich, wenn irgendwas schiefgeht.«
»So ein Blödsinn«, sagt sie halbherzig.
Ich sehe wieder auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. Es ist fast so weit. Ich fummele die Flasche aus dem Rucksack; sie fühlt sich größer und schwerer an als vorher. Ich finde das Streichholzbriefchen, das Tack mir gegeben hat, nicht gleich und werde kurz panisch, dass es irgendwie in der Dunkelheit verloren gegangen sein könnte – aber dann fällt mir wieder ein, dass ich es zur Sicherheit extra in meine Tasche gesteckt habe.
Zünd den Lumpen an, wirf die Flasche , hat Pippa mir gesagt. Da ist nichts weiter dabei.
Ich hole tief Luft und atme schweigend aus. Ich will nicht, dass Coral meine Nervosität bemerkt. »Okay, Bram.«
»Jetzt?« Seine Stimme ist leise, aber ruhig.
»Geh jetzt los. Aber warte meinen Pfiff ab.«
Er richtet sich aus der Hocke auf und entfernt sich dann lautlos von uns; bald wird er von der umfassenden Dunkelheit verschluckt. Coral und ich warten schweigend. Irgendwann stoßen unsere Ellbogen aneinander und sie zuckt zurück. Ich rutsche ein
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