Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
verliere die Kontrolle, kann nicht mehr klar denken.
» Lena . Was hast du vor?«, wiederholt Coral.
Ich drehe mich zu ihr um. »Mach eine Räuberleiter«, flüstere ich.
»Was?«
»Los, mach schon.« Panik schleicht sich in meine Stimme. Wenn Raven und die anderen nicht schon die Mauer überquert haben, werden sie es jeden Moment versuchen. Sie zählen auf mich.
Coral hat offenbar die Veränderung in meinem Tonfall bemerkt, denn sie stellt keine weiteren Fragen. Sie verschränkt ihre Finger und geht in die Knie, so dass ich meinen Fuß in ihre Hände stellen kann. Dann stemmt sie mich grunzend hoch und ich steige auf und kann mich in die Zweige ziehen, die ringförmig aus dem Stamm ragen wie die Streben eines kahlen Regenschirms. Ein Ast reicht fast bis zur Mauer. Ich lege mich auf den Bauch, presse mich dicht an die Rinde und rutsche wie eine Raupe vorwärts.
Der Ast biegt sich unter meinem Gewicht. Nach weiteren dreißig Zentimetern beginnt er zu schwanken. Ich komme nicht weiter. Je stärker sich der Ast biegt, umso mehr entferne ich mich von der Oberkante der Mauer; wenn ich noch weiter rutsche, schaffe ich es auf keinen Fall rüber.
Ich hole tief Luft und hocke mich hin, die Hände fest um den Ast geschlossen, der sanft unter mir schwankt. Ich habe keine Zeit, mir Sorgen zu machen oder abzuwägen. Ich springe auf die Mauer zu und der Ast bewegt sich wie ein Sprungbrett mit mir, als er von meinem Gewicht befreit wird.
Eine Sekunde lang fliege ich, bin schwerelos. Dann knallt die Betonkante der Mauer fest gegen meinen Bauch und raubt mir den Atem. Es gelingt mir gerade so, beide Arme um die Mauer zu schlingen und mich hinüberzuziehen, wo ich auf dem Sims lande, auf dem die Wachen patrouillieren. Ich warte kurz im Schatten, bis sich meine Atmung beruhigt hat.
Aber ich kann mich nicht lange ausruhen. Ich höre plötzlich aufbrandende Geräusche: Wachen, die sich etwas zurufen, und schwere Schritte, die in meine Richtung laufen. Gleich erwischen sie mich und dann werde ich meine Chance vertan haben.
Ich stehe auf und renne auf den Alarmturm zu.
»Hey! Hey, halt !«
Umrisse tauchen aus der Dunkelheit auf: eine, zwei, drei Wachen, alles Männer. Mondschein auf Metall – Gewehre.
Der erste Schuss prallt an einer der Stahlstreben des Alarmturms ab. Ich stürze mich in den kleinen offenen Turm, während weitere Schüsse durch die Luft hallen. Ich habe einen Tunnelblick und alle Geräusche klingen weit entfernt. Unzusammenhängende Bilder blitzen in meinem Kopf auf wie Standbilder aus verschiedenen Filmen: Schüsse. Knallkörper. Schreie. Kinder am Strand.
Und dann sehe ich nur noch den kleinen Hebel, den eine einzelne, in ein Drahtnetz gehüllte Glühbirne beleuchtet: notfallalarm .
Die Zeit scheint fast stillzustehen. Mein Arm sieht aus wie der eines anderen, treibt quälend langsam auf den Hebel zu. Ich habe den Hebel in der Hand, das Metall ist überraschend kalt. Langsam, ganz, ganz langsam greift die Hand zu; der Arm drückt.
Ein weiterer Schuss ertönt, Metall klirrt um mich herum: eine schwache, hohe Vibration.
Dann wird die Nacht plötzlich von einem schrillen Heulen zerrissen und die Zeit kehrt ruckartig zu ihrer normalen Geschwindigkeit zurück. Das Geräusch ist so laut, dass ich es bis in meine Zähne spüre. Eine riesige Lampe am Kopf des Alarmturms leuchtet auf, dreht sich, und legt einen roten Schweif über die Stadt.
Durch das Metallgerüst strecken sich Arme nach mir aus, riesige, haarige Spinnenarme. Einer der Wachmänner packt mich am Handgelenk. Ich lege ihm eine Hand in den Nacken und reiße ihn nach vorn und er knallt mit der Stirn gegen eine der Stahlstreben. Er lässt mich los, als er fluchend rückwärts stolpert.
»Miststück!«
Ich stürze aus dem Turm. Zwei Schritte, über die Mauer, und alles ist in Ordnung, ich bin frei. Bram und Coral warten bestimmt zwischen den Bäumen … wir hängen die Wachen in der Dunkelheit und den Schatten ab …
Ich kann es schaffen …
Da kommt Coral über die Mauer geklettert. Ich bin so überrascht, dass ich stehen bleibe. Das war nicht geplant. Bevor ich sie fragen kann, was sie hier macht, wird mir ein Arm um die Taille geschlungen, der mich zurückreißt. Ich rieche Leder und spüre heißen Atem im Nacken. Mein Instinkt übernimmt das Kommando; ich ramme meinen Ellbogen in den Magen des Wachmanns, aber er lässt mich nicht los.
»Keine Bewegung«, knurrt er.
Alles explodiert: Jemand schreit und eine Hand liegt um meinen Hals.
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