Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
hat.
»Wann?«, krächze ich. Ich presse immer noch meinen Unterarm gegen ihren Hals. Etwas Dunkles und Urtümliches steigt in mir auf. Verräterin .
»Lass mich los«, keucht sie. Ihr linkes Auge sieht mich an.
»Wann?«, wiederhole ich und drücke gegen ihren Hals. Sie schreit auf.
»Okay, okay«, sagt sie und ich löse den Druck ein wenig. Aber ich presse sie weiter gegen den Stein. »Dezember«, krächzt sie. »Baltimore.«
Mir dreht sich der Kopf. Natürlich. Das war Lu, die ich vorhin gehört habe. Die Worte des Aufsehers fallen mir wieder ein und ihre neue, schreckliche Bedeutung: Ich weiß nicht, wie du es so lange in diesem Dreck ausgehalten hast. Und ihre: Es war nicht leicht.
»Warum?« Ich würge die Worte hervor. Als sie nicht sofort antwortet, lehne ich mich wieder gegen sie. »Warum?«
Sie sprudelt heiser hervor: »Sie hatten Recht, Lena. Das weiß ich jetzt. Denk doch an all die Leute da draußen in den Lagern, in der Wildnis … wie die Tiere. Das ist kein Glück.«
»Das ist Freiheit«, entgegne ich.
»Wirklich?« Ihre Augen sind riesig, ihre Iris von Schwärze verschluckt. »Bist du frei, Lena? Ist dies das Leben, das du dir gewünscht hast?«
Ich kann nicht antworten. Die Wut ist wie dicker, dunkler Schlamm, eine ansteigende Flut in meiner Brust und Kehle.
Lus Stimme senkt sich zu einem samtigen Flüstern wie das Geräusch einer Schlange im Gras. »Es ist noch nicht zu spät für dich, Lena. Es spielt keine Rolle, was du auf der anderen Seite getan hast. Wir löschen das aus; wir fangen gereinigt neu an. Darum geht es doch gerade. Wir können all das entfernen … die Vergangenheit, den Schmerz, all die Kämpfe. Du kannst neu anfangen.«
Einen Moment stehen wir beide da und sehen uns an. Lu atmet heftig.
»Alles?«, frage ich.
Lu versucht zu nicken und schneidet eine Grimasse, als sie wieder gegen meinen Ellbogen stößt. »Die Angst, das Unglück. Wir können es zum Verschwinden bringen.«
Ich löse den Druck auf ihren Hals. Sie schnappt dankbar nach Luft. Ich beuge mich ganz nah zu ihr und wiederhole etwas, das Hana mal vor einem ganzen Leben zu mir gesagt hat.
»Du weißt doch, dass man nicht glücklich sein kann, ohne manchmal auch unglücklich zu sein, oder?«
Lus Miene verhärtet sich. Ich habe ihr gerade genug Spielraum gelassen, und als sie nach mir ausholt, packe ich ihr linkes Handgelenk und verdrehe es hinter ihrem Rücken, wodurch sie gezwungen ist, sich vorzubeugen. Ich kämpfe sie zu Boden, drücke sie flach, zwinge ein Knie zwischen ihre Schulterblätter.
»Lena!«, ruft Coral. Ich beachte sie nicht. Ein einzelnes Wort hämmert in mir: Verräterin. Verräterin. Verräterin.
»Was ist mit den anderen passiert?«, frage ich. Meine Worte klingen hoch und erstickt, gefangen in einem Netz aus Wut.
»Es ist zu spät, Lena.« Lus Gesicht wird seitlich gegen den Boden gepresst, aber es gelingt ihr trotzdem, ihren Mund zu einem schrecklichen Lächeln zu verziehen, einem höhnischen Halbgrinsen. Zum Glück habe ich kein Messer bei mir. Ich würde es ihr direkt in den Hals rammen.
Ich muss daran denken, wie Raven gelächelt hat, gelacht. Lu kann mit uns kommen. Sie ist ein wandelnder Glücksbringer. Ich muss daran denken, wie Tack sein Brot geteilt und ihr die größere Hälfte gegeben hat, als sie über Hunger klagte. Mein Herz fühlt sich an, als würde es zu Kreide zerkrümeln, und ich will gleichzeitig schreien und weinen. Wir haben dir vertraut.
»Lena«, wiederholt Coral. »Ich glaube …«
»Sei still«, sage ich heiser und konzentriere mich weiter auf Lu. »Sag mir, was mit ihnen passiert ist, oder ich bringe dich um.«
Sie kämpft gegen mein Gewicht an und strahlt mich weiterhin mit diesem schrecklichen verzerrten Grinsen an. »Zu spät«, wiederholt sie. »Morgen vor dem Einbruch der Nacht werden sie hier sein.«
»Wovon redest du?«
Ihr Gelächter ist ein Rasseln in ihrer Kehle. »Du hast doch nicht gedacht, das würde ewig so weitergehen, oder? Du hast doch nicht gedacht, wir würden euch weiter in eurem kleinen Lager spielen lassen, in eurem Dreck …« Ich verdrehe ihren Arm noch ein Stückchen Richtung Schulterblatt. Sie schreit auf und spricht dann eilig weiter. »Zehntausend Soldaten, Lena. Zehntausend Soldaten gegen tausend hungrige, durstige, kranke, unorganisierte Ungeheilte. Ihr werdet niedergemäht. Ausgelöscht. Paff .«
Mir wird schlecht. Mein Kopf fühlt sich benommen, wabernd an. Entfernt wird mir bewusst, dass Coral wieder etwas zu mir
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