Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Walkie-Talkies und der Rhythmus der Schritte verklungen ist.
Die Stadt verändert sich, bald werden die Gebäude weniger. Wenigstens ist das Geräusch der immer noch heulenden Sirene inzwischen nur noch ein entfernter Schrei und wir betreten dankbar ein Gebiet, in dem die Straßenlaternen dunkel sind. Der aufgedunsene Mond steht hoch über uns. Die Wohnungen zu beiden Seiten haben den leeren, verlassenen Blick von Kindern, die ihre Eltern verloren haben. Ich frage mich, wie weit wir wohl vom Fluss entfernt sind, ob es Raven und den anderen gelungen ist, den Damm zu sprengen und ob wir das wohl gehört hätten. Ich muss an Julian denken und spüre einen Anflug von Angst und Reue. Ich war gemein zu ihm. Dabei gibt er sein Bestes.
»Lena.« Coral bleibt stehen und zeigt auf etwas. Wir gehen gerade an einem Park vorbei; in seiner Mitte befindet sich ein versunkenes Freilufttheater. Einen Augenblick bin ich verwirrt und meine, dunkles Öl zu sehen, das zwischen den Steinsitzen glänzt; der Mond scheint auf eine glatte schwarze Fläche.
Dann geht es mir auf: Wasser .
Die Hälfte des Theaters ist überschwemmt. Blätter wirbeln über seine Oberfläche und stören das wässrige Spiegelbild des Mondes, der Sterne und der Bäume. Es ist eigenartig schön. Unbewusst trete ich einen Schritt vor auf das Gras, das unter meinen Füßen quietscht. Schlamm sprudelt unter meinen Schuhen hoch.
Pippa hatte Recht. Durch den Damm ist der Fluss offenbar über die Ufer getreten und hat einen Teil der Innenstadt überschwemmt. Das muss bedeuten, dass dies eins der Viertel ist, die nach den Protesten evakuiert worden sind.
»Gehen wir zur Mauer«, sage ich. »Es dürfte nicht schwierig sein, hier rüberzukommen.«
Wir gehen weiter um den Park herum. Die Stille, die uns umgibt, ist tief, vollständig und beruhigend. Ich bekomme langsam ein gutes Gefühl. Wir haben es geschafft. Wir haben unseren Auftrag erfüllt – mit ein wenig Glück hat auch der Rest unseres Plans funktioniert.
An einer Ecke des Parks befindet sich eine Steinrotunde, die von einem Kreis dunkler Bäume umgeben ist. Wenn dort nicht die einzelne altmodische Laterne an der Ecke stünde, hätte ich das Mädchen, das auf einer der Steinbänke sitzt, übersehen. Sie hat den Kopf zwischen den Knien, aber ich erkenne ihre langen, strähnigen Haare und ihre schlammverkrusteten lilafarbenen Turnschuhe. Lu.
Coral entdeckt sie gleichzeitig. »Ist das nicht …?«, hebt sie an, aber ich renne bereits los.
»Lu!«, rufe ich.
Sie blickt erschrocken auf. Offenbar erkennt sie mich nicht gleich; einen Augenblick ist ihr Gesicht kalkweiß, voller Angst. Ich hocke mich vor sie und lege ihr die Hände auf die Schultern.
»Alles in Ordnung?«, frage ich atemlos. »Wo sind die anderen? Ist was passiert?«
»Ich …« Sie bricht ab und schüttelt den Kopf.
»Bist du verletzt?« Ich richte mich auf, lasse die Hände jedoch auf ihren Schultern liegen. Ich sehe kein Blut, aber sie zittert leicht unter meiner Berührung. Sie klappt den Mund auf, dann schließt sie ihn wieder. Ihre Augen sind weit aufgerissen und leer. »Lu. Sprich mit mir.« Ich nehme meine Hände von ihren Schultern zu ihrem Gesicht und schüttele sie dann leicht, versuche sie aufzurütteln. Dabei fahren meine Fingerspitzen über die Haut hinter ihrem linken Ohr.
Mein Herz setzt aus.
Lu schreit leise auf und versucht sich loszumachen. Aber ich halte ihren Nacken fest in meinen Händen. Jetzt zuckt sie und windet sich, versucht sich freizukämpfen.
»Lass mich in Ruhe«, schleudert sie mir entgegen.
Ich sage nichts. Ich kann nicht sprechen. Meine ganze Energie befindet sich jetzt in meinen Händen und meinen Fingern. Lu ist stark, aber ich habe sie überrascht und es gelingt mir, sie hochzuziehen und mit dem Rücken gegen eine Steinsäule zu drängen. Ich drücke ihr meinen Ellbogen an den Hals und zwinge sie so, hustend den Kopf nach links zu drehen.
Undeutlich nehme ich Corals Stimme wahr: »Was zum Teufel tust du da, Lena?«
Ich zerre Lu die Haare aus dem Gesicht, so dass ihr hübscher weißer Hals entblößt wird.
Ich sehe das hektische Flattern ihres Pulsschlags – direkt unter der sauberen dreizackigen Narbe an ihrem Hals.
Der Eingriffsnarbe. Einer echten.
Lu ist geheilt.
Die letzten paar Wochen ziehen an meinem inneren Auge vorüber: Lus Ruhe und die Veränderungen in ihrem Charakter. Die Tatsache, dass sie sich die Haare hat wachsen lassen und sie jeden Tag sorgfältig nach vorne gekämmt
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