Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Freundschaft mit Lena. Sie sah es als Ausdruck ihres Liberalismus’. Wir verurteilen das Mädchen nicht wegen seiner Familie , erklärte sie Gästen, wenn die das Gespräch darauf brachten. Die Krankheit ist nicht erblich; das ist eine überholte Vorstellung.
Als Lena sich dann mit der Krankheit ansteckte und es ihr gelang zu fliehen, bevor sie behandelt werden konnte, fasste meine Mutter das fast als persönliche Beleidigung auf –, als habe Lena das nur getan, um sie bloßzustellen.
All die Jahre über durfte sie bei uns ein und aus gehen , sagte sie in den Tagen nach Lenas Flucht immer wieder zusammenhanglos. Obwohl wir die Risiken kannten. Alle haben uns gewarnt … Tja, wahrscheinlich hätten wir auf sie hören sollen.
»Sie sah dünn aus«, sage ich.
»Tony, nach Hause.« Meine Mutter lehnt den Kopf an die Kopfstütze und schließt die Augen. Ich weiß, dass das Gespräch damit beendet ist.
lena
M
itten in der Nacht wache ich aus einem Albtraum auf. Grace war unter den Dielen unseres alten Zimmers in Tante Carols Haus gefangen. Schreie drangen von unten herauf – Feuer. Das Zimmer war voller Rauch. Ich versuchte Grace zu packen, sie zu retten, aber ihre Hand entglitt meinem Griff immer wieder. Meine Augen brannten, der Rauch raubte mir den Atem und ich wusste, wenn ich jetzt nicht davonlief, würde ich sterben. Aber sie weinte und schrie, ich solle sie retten, sie retten …
Ich setze mich auf und wiederhole in Gedanken Ravens Maxime – die Vergangenheit ist vorbei, es gibt sie nicht –, aber es nützt nichts. Ich kann das Gefühl von Gracies zierlicher, schweißnasser Hand, die meinem Griff entgleitet, nicht abschütteln.
Das Zelt ist überfüllt. Dani liegt dicht neben mir und drei weitere Frauen drängen sich an sie.
Julian hat im Moment noch ein Zelt für sich allein. Es ist ein kleines Zugeständnis. Man gibt ihm Zeit, sich hier einzuleben, genau wie mir, als ich damals in die Wildnis geflohen war. Es dauert eine Weile, bis man sich an das Gefühl der Nähe und der Körper, die dauernd an einen stoßen, gewöhnt hat. In der Wildnis gibt es keine Privatsphäre und auch für Prüderie ist kein Platz.
Ich hätte bei Julian im Zelt schlafen können. Ich weiß, dass er das von mir erwartet nach dem, was wir im Untergrund zusammen erlebt haben: die Entführung, der Kuss. Ich habe ihn schließlich hergebracht. Ich habe ihn befreit und ihn in dieses neue Leben gezerrt, ein Leben aus Freiheit und Gefühl. Nichts sollte mich davon abhalten, neben ihm zu schlafen. Die Geheilten – die Zombies – würden sagen, dass wir bereits infiziert sind. Wir wälzen uns in unserem Dreck wie Schweine sich im Schlamm suhlen.
Wer weiß? Vielleicht haben sie sogar Recht. Vielleicht haben uns unsere Gefühle verrückt gemacht. Vielleicht ist Liebe wirklich eine Krankheit und wir wären ohne sie besser dran.
Aber wir haben einen anderen Weg gewählt. Und letzten Endes geht es genau darum, wenn man vor dem Heilmittel flieht: Wir können wählen.
Wir können sogar das Falsche wählen.
Ich kann noch nicht wieder einschlafen, ich brauche frische Luft. Also befreie ich mich aus dem Wirrwarr aus Schlafsäcken und Decken und taste im Dunkeln nach dem Zelteingang. Auf dem Bauch krieche ich hinaus und versuche dabei nicht zu viel Lärm zu machen. Hinter mir tritt Dani im Schlaf um sich und murmelt etwas Unverständliches.
Die Nacht ist kühl, der Himmel klar und wolkenlos. Der Mond scheint näher als sonst und überzieht alles mit einem silbrigen Glanz wie mit einer dünnen Schicht Schnee. Einen Moment bleibe ich stehen und genieße das Gefühl der Stille und der Regungslosigkeit: die vom Mondlicht getönten Zeltspitzen; die niedrigen Zweige, an denen die ersten Blattknospen zu sehen sind; den gelegentlichen Schrei einer Eule in der Ferne.
In einem der Zelte schläft Julian.
Und in einem anderen: Alex.
Ich gehe auf die Senke zu, weg von den Zelten, am heruntergebrannten Lagerfeuer vorbei, von dem nicht viel mehr übrig ist als schwarz verkohlte Holzstücke und ein Rest rauchende Glut. Es riecht immer noch ein wenig nach versengtem Metall und Bohnen.
Ich weiß nicht genau, wo ich hingehe, und es ist unklug, sich vom Lager zu entfernen – Raven hat mich eine Million Mal davor gewarnt. Nachts gehört die Wildnis den Tieren und man kann leicht die Orientierung verlieren, sich zwischen den Pflanzen und den gewundenen Wegen inmitten der Bäume verirren. Aber ich muss unbedingt da raus und die Nacht ist so klar,
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