Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
dass ich mich leicht zurechtfinde.
Ich springe in das ausgetrocknete Bachbett hinunter, das von einer Schicht aus Steinen, Blättern und vereinzelten Überbleibseln des alten Lebens bedeckt ist: einer verbeulten Coladose, einer Plastiktüte, einem Kinderschuh. Ich gehe etwa hundert Meter Richtung Süden, wo mir eine riesige umgestürzte Eiche den Weg versperrt. Ihr Stamm ist so dick, dass er mir fast bis zur Brust reicht; ein ausgedehntes Netz aus Wurzeln reckt sich in den Himmel wie die dunkle Fontäne eines Springbrunnens.
Hinter mir raschelt etwas. Ich fahre herum. Ein Schatten bewegt sich, wird deutlicher, und einen Augenblick bleibt mir das Herz stehen – ich bin ungeschützt; ich habe keine Waffe, nichts, womit ich ein hungriges Tier abwehren könnte. Dann tritt der Schatten ins Mondlicht und nimmt die Form eines Jungen an.
Im schwachen Licht kann man nicht erkennen, dass seine Haare genau die gleiche Farbe haben wie Herbstblätter: goldbraun, von Rot durchzogen.
»Oh«, sagt Alex, »du bist das.« Das sind seit vier Tagen die ersten Worte, die er an mich richtet.
Es gibt tausend Dinge, die ich ihm sagen möchte.
Bitte versteh mich. Bitte vergib mir.
Ich habe jeden Tag gebetet, dass du am Leben sein mögest, bis die Hoffnung zu schmerzhaft wurde.
Hass mich nicht.
Ich liebe dich noch immer.
Aber alles, was ich herausbringe, ist: »Ich kann nicht schlafen.«
Alex erinnert sich bestimmt, dass ich schon immer unter Albträumen gelitten habe. Darüber haben wir während unseres Sommers in Portland oft gesprochen. Letzten Sommer – vor noch nicht mal einem Jahr. Es ist unglaublich, was für eine Riesenstrecke ich seitdem zurückgelegt habe, was für eine Welt sich zwischen uns erstreckt.
»Ich kann auch nicht schlafen«, sagt Alex schlicht.
Allein das, diese schlichte Aussage und die Tatsache, dass er überhaupt mit mir spricht, löst etwas in mir. Ich will ihn umarmen, ihn küssen, so wie früher.
»Ich dachte, du wärst tot«, sage ich. »Es hat mich beinahe umgebracht.«
»Wirklich?« Seine Stimme klingt gleichgültig. »Du hast dich ziemlich schnell erholt.«
»Nein. Du verstehst das nicht.« Meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich habe das Gefühl zu ersticken. »Ich konnte nicht weiter hoffen, um dann jeden Tag aufzuwachen und erneut festzustellen, dass ich nur geträumt hatte und du immer noch weg warst. Ich … ich war nicht stark genug.«
Er schweigt einen Moment. Es ist zu dunkel, um sein Gesicht erkennen zu können. Er steht wieder im Schatten, aber ich spüre, dass er mich ansieht.
Schließlich sagt er: »Als sie mich in die Grüfte gebracht haben, dachte ich, sie würden mich töten. Aber sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht. Sie wollten mich einfach sterben lassen. Sie haben mich in eine Zelle geworfen und die Tür verriegelt.«
»Alex.« Das erstickte Gefühl aus meiner Kehle ist in meine Brust gewandert, und ohne es zu bemerken, habe ich angefangen zu weinen. Ich gehe auf ihn zu. Ich will mit den Händen durch seine Haare fahren und ihn auf die Stirn und die Augenlider küssen, um ihn von der Erinnerung an alles, was er erlebt hat, zu befreien. Doch er macht einen Schritt zurück, weg von mir.
»Aber ich habe überlebt. Ich weiß nicht, wie. Eigentlich hätte ich sterben müssen. Ich habe sehr viel Blut verloren. Sie waren genauso überrascht wie ich. Danach wurde es zu einer Art Spiel – zu sehen, was ich aushielt. Zu sehen, was sie mir antun konnten, bevor ich …«
Er bricht unvermittelt ab. Ich kann nicht mehr hören, will es nicht wissen, will nicht, dass es stimmt, kann es nicht ertragen, daran zu denken, was sie ihm dort angetan haben. Ich trete noch einen Schritt vor und strecke im Dunkeln die Arme aus, berühre seine Brust und seine Schultern. Diesmal entzieht er sich mir nicht. Aber er erwidert meine Umarmung auch nicht. Er steht kalt und unbewegt da wie eine Statue.
»Alex.« Ich wiederhole seinen Namen wie ein Gebet, wie einen Zauberspruch, der alles wieder in Ordnung bringen soll. Ich streiche mit den Händen über seine Brust bis zu seinem Kinn. »Es tut mir so leid, es tut mir so wahnsinnig leid.«
Plötzlich reißt er sich los, packt meine Handgelenke und schiebt sie weg. »Es gab Tage, an denen ich mir wünschte, sie hätten mich getötet.« Er lässt meine Handgelenke nicht los, er hält sie fest umklammert, drückt meine Arme herunter, so dass ich mich nicht rühren kann. Seine Stimme ist leise, dringlich und so voller Wut, dass sie mich
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