Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Lu vielleicht gelogen hat. Ich verspüre einen Anflug von Hoffnung: Vielleicht wird das Lager gar nicht angegriffen und Pippa geht es gut. Natürlich gibt es da immer noch das Problem mit dem verdammten Fluss, aber Pippa wird schon was einfallen. Sie ist wie Raven: die geborene Überlebenskünstlerin.
Aber am Nachmittag hören wir Schreie aus der Ferne. Tack hebt eine Hand und gibt uns ein Zeichen, leise zu sein. Wir erstarren alle und dann, als Tack winkt, verteilen wir uns im Wald. Julian hat sich gut an die Wildnis und die Notwendigkeit, sich zu verstecken, angepasst. Gerade stand er noch neben mir; dann verschmilzt er bereits mit einer kleinen Baumgruppe. Die anderen verschwinden ebenso schnell.
Ich ducke mich hinter eine alte Betonmauer, die so aussieht, als wäre sie vom Himmel gefallen. Ich frage mich, zu was für einer Konstruktion sie wohl mal gehört hat, und plötzlich fällt mir die Geschichte wieder ein, die Julian mir erzählt hat, als wir zusammen eingesperrt waren, von einem Mädchen namens Dorothy, deren Haus auf der mächtigen Welle eines Tornados in die Luft geschleudert wird und die in einem Zauberland landet.
Als das Schreien lauter wird und das Geräusch der klirrenden Waffen und heftigen Stiefelschritte zu einem dröhnenden Rhythmus anschwillt, stelle ich mir vor, wir würden ebenfalls davongefegt – wir alle, alle Invaliden, die Menschen, die aus der normalen Gesellschaft ausgestoßen und vertrieben wurden –, verschwänden mit Hilfe eines Windstoßes und wachten dann irgendwo anders wieder auf.
Aber das hier ist kein Märchen. Es ist April in der Wildnis. Schwarzer Schlamm dringt durch meine feuchten Turnschuhe; Wolken aus Stechmücken sirren. Atem anhalten und warten.
Die Truppen sind etwa hundert Meter von uns entfernt, unterhalb einer sanft abfallenden Böschung und jenseits eines kleinen Rinnsals. Von unserer erhöhten Position aus können wir die lange Reihe aus Soldaten gut erkennen, als sie in Sicht kommen, verschwommene Uniformen, die immer wieder zwischen den Bäumen auftauchen. Das sich im Wind verändernde Diamantmuster der Blätter verschmilzt perfekt mit der sich verändernden unscharfen Masse aus Männern und Frauen in Tarnanzügen, die Maschinengewehre und Tränengas schleppen. Sie scheint gar nicht mehr aufzuhören.
Schließlich versiegt der Strom der Soldaten und in stiller Übereinstimmung versammeln wir uns wieder und gehen weiter. Das Schweigen ist nervös aufgeladen und unbehaglich. Ich versuche nicht an die Menschen im Lager zu denken, die ohne Wasser in ihrer Senke hocken und dort jetzt in der Falle sitzen. Mir fällt eine alte Redewendung ein – wie ein Fisch auf dem Trockenen – und ich verspüre den heftigen und unpassenden Drang zu lachen. So sind sie, all die Invaliden: Fische mit weit aufgerissenen Augen, die ihre bleichen Bäuche der Sonne entgegendrehen, so gut wie tot.
Nach etwas mehr als zwölf Stunden haben wir das Versteck erreicht. Die Sonne hat eine komplette Bahn über den Himmel gezogen und geht jetzt hinter den Bäumen unter, wo sie in wässrige Streifen aus Gelb und Orange zerfällt. Es erinnert mich an die pochierten Eier, die meine Mutter früher immer gemacht hat, wenn ich krank war. Daran, wie das Eigelb über den Teller rann, ein lebendiges und überraschendes Gold, und ich verspüre einen heftigen Anfall von Heimweh. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meine Mutter vermisse oder einfach nur den Trott meines früheren Lebens: eines Lebens mit Schule, Verabredungen zum Spielen und Regeln, die mich schützten; Grenzen und Beschränkungen; Badezeit und Ausgangssperren. Ein einfaches Leben.
Das Versteck ist durch eine kleine hölzerne oberirdische Konstruktion gekennzeichnet, nicht größer als ein Außenklo, in die eine grob gefertigte Tür eingepasst wurde. Das ganze Ding muss nach der Offensive aus Trümmern zusammengestückelt worden sein. Als Tack die Tür an ihren rostigen Scharnieren aufzieht – auch diese sind verdreht und verzogen – sehen wir nur ein paar Stufen, die in ein dunkles Loch hinunterführen.
»Wartet.« Raven kniet sich hin, kramt in einem der Bündel, die sie von Pippa mitgenommen hat, und holt eine Taschenlampe heraus. »Ich gehe als Erste.«
Es riecht muffig und noch nach etwas anderem – einem süß-säuerlichen Geruch, den ich nicht identifizieren kann. Wir gehen hinter Raven her die steile Treppe hinunter. Sie lässt den Strahl der Taschenlampe durch einen Raum schweifen, der überraschend
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