Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
zurück, schiebe den Schrank mit dem Fuß zu und stecke den Brief in meine Gesäßtasche. Gott sei Dank habe ich Jeans angezogen. Ich schnappe mir einen Stift vom Schreibtisch. Als Eleanor die Tür aufdrückt, präsentiere ich ihn ihr triumphierend, noch bevor sie zu Wort kommen kann.
»Gefunden!«, sage ich fröhlich. »Ich hatte doch tatsächlich vergessen, einen Stift einzustecken. Heute habe ich ein Gedächtnis wie ein Sieb.«
Sie traut mir nicht. Das merke ich deutlich. Aber sie kann mir nichts direkt vorwerfen. »Da war kein Musterbuch«, sagt sie langsam. »Überhaupt kein Buch, soweit ich gesehen habe.«
»Komisch.« Eine Schweißperle rinnt zwischen meinen Brüsten hindurch. Ich sehe, wie sie das ganze Zimmer absucht, als hielte sie Ausschau danach, ob etwas durcheinandergebracht oder verstellt worden ist. »Wahrscheinlich haben Mrs Hargrove und ich heute irgendwie aneinander vorbeigeredet. Entschuldigen Sie.« Ich muss mich an ihr vorbeizwängen, sie richtig zur Seite schieben. Ich denke gerade noch daran, Mrs Hargrove eine kurze Notiz zu schreiben – Sind Sie damit einverstanden? , schreibe ich, obwohl mir ihre Meinung eigentlich egal ist. Eleanor steht die ganze Zeit hinter mir, als glaubte sie, ich wollte etwas stehlen.
Zu spät.
Die ganze Aktion hat nicht länger als zehn Minuten gedauert. Rick hat den Motor laufen lassen. Ich rutsche auf den Rücksitz. »Nach Hause«, sage ich. Als er aus der Einfahrt fährt, meine ich, Eleanor am Fenster zu sehen, die mich beobachtet.
Es wäre sicherer zu warten, bis ich zu Hause bin, bevor ich den Brief lese, aber ich kann mich nicht zurückhalten und klappe ihn auf. Ich werfe einen genaueren Blick auf den Briefkopf: Dr. med. Sean Perlin, Leitender Chirurg und Gutachter, Laboratorium Portland.
Der Brief ist kurz.
Gutachten
Im Folgenden geht es um den körperlichen und geistigen Zustand Cassandra Melanea Hargroves, geb. O’Donnell, die neun Tage lang bei mir in Behandlung und zur Überwachung war.
Meiner beruflichen Einschätzung zufolge leidet Mrs Hargrove unter akuten Wahnvorstellungen, die von einer chronischen geistigen Instabilität herrühren; sie ist besessen vom Blaubart-Mythos und verbindet dieses Märchen mit ihren eigenen Verfolgungsängsten; sie ist in höchstem Maße neurotisch und es gibt meines Erachtens wenig Hoffnung auf Besserung.
Ihr Zustand scheint degenerativer Natur zu sein und könnte möglicherweise durch ein gewisses chemisches Ungleichgewicht als Folge des Eingriffs ausgelöst worden sein, was sich jedoch nicht eindeutig feststellen lässt.
Ich lese den Brief mehrmals. Ich hatte also Recht – es war wirklich etwas nicht in Ordnung mit ihr. Sie ist verrückt geworden. Vielleicht hat der Eingriff sie wahnsinnig gemacht, so wie Willow Marks. Komisch, dass das vor ihrer Hochzeit mit Fred niemand bemerkt hat, aber wahrscheinlich nimmt so was manchmal auch einen schleichenden Verlauf.
Trotzdem will sich der Knoten in meinem Magen einfach nicht lösen. Hinter der glänzenden Prosa des Arztes gibt es noch eine weitere Botschaft: Cassie hatte Angst.
Ich erinnere mich an das Märchen von Blaubart: die Geschichte eines Mannes, eines gut aussehenden Prinzen, in dessen Schloss es eine verriegelte Tür gibt. Er sagt seiner Braut, sie dürfe alle Zimmer außer diesem betreten. Aber eines Tages wird sie von ihrer Neugier übermannt und entdeckt einen Raum voll mit ermordeten Frauen, die alle an den Füßen aufgehängt sind. Als Blaubart herausfindet, dass sie seinen Befehl missachtet hat, fügt er sie seiner schrecklichen blutigen Sammlung hinzu.
Als Kind machte mir dieses Märchen große Angst, vor allem das Bild der vielen ausgenommenen Frauen mit bleichen Armen und blicklosen Augen.
Ich falte den Brief vorsichtig zusammen und stecke ihn wieder in meine Hosentasche. Das ist Unsinn. Cassie war fehlerhaft, genau wie ich angenommen habe, und Fred hat sich mit gutem Grund von ihr scheiden lassen. Nur, weil sie nicht mehr im System ist, heißt das nicht, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen sein muss. Vielleicht war es nur ein Verwaltungsfehler.
Aber auf der gesamten Heimfahrt geht mir Freds seltsames Lächeln nicht aus dem Kopf und die Art, wie er gesagt hat: Cassie hat zu viele Fragen gestellt.
Und ich kann den unwillkürlichen, ungebetenen Gedanken einfach nicht unterdrücken: Was, wenn Cassie begründete Angst hatte?
lena
W
ährend der ersten Hälfte des Tages gibt es keine Anzeichen für Truppen und mir kommt der Gedanke, dass
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