Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
»Ich erklär’s dir später.« In meiner Brust sitzt eine Luftblase, die mir das Atmen und Sprechen erschwert.
Er weiß es nicht. Niemand weiß es außer Raven und vielleicht Tack. Sie haben früher schon mal mit Bee zusammengearbeitet.
Jetzt sieht mich meine Mutter gar nicht an. Sie nimmt einen Becher Wasser von Raven entgegen und trinkt. Und allein das – diese kleine Bewegung – lässt die Wut in mir aufsteigen.
»Ich habe heute einen Hirsch erlegt«, sagt Julian gerade. »Tack hat ihn mitten auf der Lichtung entdeckt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe …«
»Wie schön für dich«, unterbreche ich ihn barsch. »Du hast einen Abzug gedrückt.«
Julian wirkt verletzt. Ich verhalte mich ihm gegenüber jetzt schon seit Tagen abscheulich. Das ist das Problem: Nehmt uns das Heilmittel, die Lehrbücher und die Konventionen, dann gibt es keine Regeln mehr, an die wir uns halten können. Liebe existiert nur phasenweise.
»Ein Hirsch ist etwas zu essen, Lena«, sagt er leise. »Hast du mir nicht immer gesagt, das hier sei kein Spiel? Ich meine es wirklich ernst.« Er schweigt einen Augenblick. »Ich möchte bleiben.« Er betont den letzten Teil und ich weiß, dass er an Alex denkt, und kann nicht umhin auch an ihn zu denken.
Ich muss in Bewegung bleiben, mein Gleichgewicht wiederfinden, aus dem erdrückenden Raum rauskommen.
»Lena.« Raven steht neben mir. »Hilf mir, etwas zu essen zu holen, ja?«
Das ist Ravens Regel: Bleib beschäftigt – mach weiter – steh auf. Öffne eine Dose – hol Wasser.
Tu etwas.
Ich folge ihr automatisch zur Spüle.
»Gibt’s was Neues aus Waterbury?«, fragt Tack.
Einen Moment herrscht Schweigen. Es ist meine Mutter, die dann antwortet.
»Weg«, sagt sie einfach.
Raven schneidet aus Versehen zu fest durch einen Streifen getrocknetes Fleisch, zieht keuchend den Finger weg und saugt daran.
»Was soll das heißen, weg ?«, fragt Tack mit scharfer Stimme.
»Ausgelöscht.« Diesmal meldet sich Cap zu Wort. »Dem Erdboden gleichgemacht.«
»O Gott.« Hunter lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen. Julian steht stocksteif da, die Hände zu Fäusten geballt; Tacks Miene ist versteinert. Meine Mutter – die Frau, die meine Mutter war – sitzt mit im Schoß gefalteten Händen da, bewegungslos, ausdruckslos. Nur Raven bewegt sich weiter, wickelt ein Küchentuch um ihren Finger, säbelt durch das getrocknete Fleisch, hin und her, hin und her.
»Und jetzt?«, fragt Julian mit angespannter Stimme.
Meine Mutter blickt auf. Etwas Urtümliches und Tiefgehendes in mir zuckt zusammen. Ihre Augen sind immer noch so leuchtend blau, wie ich sie in Erinnerung habe, immer noch unverändert wie ein Himmel, in den man sich stürzen möchte. Wie Julians Augen.
»Wir müssen weiter«, sagt sie. »Unterstützung bieten, wo sie vonnöten ist. Die Widerstandsbewegung sammelt immer noch ihre Kräfte, sammelt Leute …«
»Und was ist mit Pippa?«, platzt Hunter heraus. »Pippa hat gesagt, wir sollen auf sie warten. Sie hat gesagt …«
»Hunter«, sagt Tack. »Du hast gehört, was Cap gesagt hat.« Er senkt die Stimme. »Ausgelöscht.«
Wieder schweigen alle. Ich sehe, wie ein Muskel am Kiefer meiner Mutter zuckt – ein neuer Tick –, und sie wendet sich ab, so dass ich die ausgeblichene grüne Nummer sehen kann, die auf ihren Hals tätowiert ist, direkt unterhalb der vielen üblen Narben, dem Ergebnis all ihrer misslungenen Eingriffe. Ich muss an die Jahre denken, die sie in ihrer winzigen, fensterlosen Zelle in den Grüften verbracht hat, in denen sie mit dem Metallanhänger meines Vaters die Wände bearbeitete und unendlich oft das Wort Liebe in den Stein ritzte. Und irgendwie ist sie jetzt nach weniger als einem Jahr in Freiheit der Widerstandsbewegung beigetreten. Mehr noch. Sie steht in ihrem Zentrum.
Diese Frau hier kenne ich überhaupt nicht; ich weiß nicht, wie sie zu der wurde, die sie ist, wann ihr Kiefer anfing zu zucken und ihre Haare ergraut sind, wann es anfing, dass ihre Augen verschleierten und ihr Blick dem ihrer Tochter auswich.
»Und wohin gehen wir?«, fragt Raven.
Max und Cap wechseln einen Blick. »Im Norden braut sich was zusammen«, sagt Max. »In Portland.«
»Portland?«, wiederhole ich unwillkürlich. Meine Mutter blickt zu mir auf und ich habe den Eindruck, dass sie ängstlich aussieht. Dann senkt sie den Blick.
»Da kommst du her, oder?«, fragt mich Raven.
Ich lehne mich an die Spüle, schließe die Augen und sehe meine
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