Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
ich sogar unglücklicher.
Ich laufe und bin nur ein paar Minuten vom Versteck entfernt, als ich aufhöre, gegen den Druck hinter meinen Augen anzukämpfen. Meine ersten Schluchzer kommen krampfartig und bringen den Geschmack nach Galle mit sich. Ich lasse mich völlig gehen. Ich sinke auf das Gewirr aus Unterholz und weichem Moos, lege den Kopf auf die Knie und schluchze, bis ich keine Luft mehr bekomme, bis der Rotz auf die Blätter unter meinen Beinen tropft. Ich weine um alles, was ich aufgegeben habe, und auch, weil ich zurückgelassen wurde – von Alex, von meiner Mutter, von der Zeit, die unsere Welten zerteilt und uns getrennt hat.
Ich höre Schritte hinter mir und weiß, ohne mich umzudrehen, dass es Raven ist. »Geh weg«, sage ich. Meine Stimme klingt belegt. Ich fahre mir mit dem Handrücken über Nase und Wangen.
Aber es ist meine Mutter, die antwortet. »Du bist wütend auf mich«, sagt sie.
Augenblicklich höre ich auf zu weinen. Mir wird kalt und ich erstarre. Sie hockt sich neben mich und obwohl ich sorgfältig darauf bedacht bin, nicht aufzusehen, sie überhaupt nicht anzusehen, kann ich sie spüren, kann den Schweiß auf ihrer Haut riechen und ihren stoßweisen Atem hören.
»Du bist wütend auf mich«, wiederholt sie und ihre Stimme stockt leicht. »Du glaubst, du bedeutest mir nichts.«
Ihre Stimme ist noch dieselbe. Jahrelang habe ich mir diese Stimme vorgestellt, wie sie mit singendem Tonfall die verbotenen Worte sprach: Ich liebe dich. Vergiss das nicht. Das können sie uns nicht nehmen. Ihre letzten Worte an mich, bevor sie wegging.
Sie rutscht ein Stück vor und kauert jetzt neben mir. Sie zögert, dann streckt sie eine Hand aus, legt mir die Handfläche auf die Wange und dreht meinen Kopf zu sich, so dass ich sie ansehen muss. Ich kann die Schwielen an ihren Händen spüren.
In ihren Augen spiegelt sich eine Miniaturausgabe von mir und ich werde in die Zeit zurückkatapultiert, bevor sie mich verließ, bevor ich glaubte, sie sei für immer weg, als ihre Augen mich jeden Morgen willkommen hießen und mich jeden Abend in den Schlaf geleiteten.
»Du bist sogar noch schöner geworden, als ich es mir vorgestellt hatte«, flüstert sie. Sie weint ebenfalls.
Die harte Schale in mir zerbricht.
»Warum?«, ist das einzige Wort, das herauskommt. Ohne dass ich es vorhabe oder auch nur darüber nachdenke, lasse ich zu, dass sie mich an sich zieht, dass sie ihre Arme um mich schlingt. Ich weine in die Stelle zwischen ihren Schlüsselbeinen und atme den immer noch vertrauten Geruch ihrer Haut ein.
Es gibt so viele Dinge, die ich sie fragen muss: Was ist dir in den Grüften passiert? Wie konntest du zulassen, dass sie dich mir wegnahmen? Wo bist du gewesen? Aber ich kann nichts weiter sagen als: »Warum bist du mich nicht holen gekommen? Nach all diesen Jahren – nach dieser langen Zeit – warum bist du nicht gekommen?« Dann kann ich gar nicht mehr reden; ich werde von Schluchzern geschüttelt.
»Shhh.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, streicht mir über die Haare, genau wie früher, als ich noch ein Kind war. Ich bin wieder ein Säugling in ihren Armen – hilflos und bedürftig. »Jetzt bin ich ja da.«
Sie streichelt meinen Rücken, während ich weine. Langsam spüre ich, wie die Dunkelheit aus mir entweicht, als würde die Bewegung ihrer Hand sie vertreiben. Schließlich komme ich wieder zu Atem. Meine Augen brennen und meine Kehle fühlt sich rau und wund an. Ich löse mich von ihr, wische mir mit dem Handballen über die Augen, ohne mich darum zu kümmern, dass mir die Nase läuft. Ich bin plötzlich völlig erschöpft – zu müde, um verletzt zu sein, zu müde, um wütend zu sein. Ich will schlafen, nichts als schlafen.
»Ich habe dich nie vergessen«, sagt meine Mutter. »Ich habe jeden Tag an euch gedacht – an dich und Rachel.«
»Rachel wurde geheilt«, sage ich. Die Erschöpfung lastet schwer auf mir; sie überdeckt jegliches Gefühl. »Sie wurde einem Partner zugeteilt und ist ausgezogen. Und du hast mich in dem Glauben gelassen, du wärst tot. Ich würde immer noch denken, du wärst tot, wenn …« Wenn Alex nicht wäre , denke ich, spreche es aber nicht aus. Natürlich weiß meine Mutter nichts von Alex. Sie weiß nichts von mir.
Meine Mutter wendet den Blick ab. Einen Moment glaube ich, sie wird wieder anfangen zu weinen. Aber das tut sie nicht. »Als ich an diesem Ort weggeschlossen war, war der Gedanke an euch – meine zwei hübschen Mädchen –
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