Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Mutter, die lachend am Strand vor mir herrennt. Ihre Füße wirbeln den dunklen Sand auf und ein langes, weites grünes Kleid peitscht um ihre Knöchel.
Ich schlage schnell die Augen wieder auf und es gelingt mir zu nicken.
»Ich kann nicht dahin zurück.« Die Worte kommen heftiger heraus als geplant und alle sehen mich an.
»Wenn wir irgendwohin gehen, dann gehen wir alle zusammen«, sagt Raven.
»In Portland gibt es eine große Untergrundbewegung«, sagt Max. »Das Netzwerk wächst schnell – schon seit den Zwischenfällen. Das war aber erst der Anfang. Als Nächstes …« Er schüttelt mit leuchtenden Augen den Kopf. »… wird was richtig Großes passieren.«
»Ich kann nicht«, wiederhole ich. »Und ich will nicht.« Erinnerungen brechen über mich herein: Hana, die am Strand von Back Cove neben mir rennt, unsere Turnschuhe quietschen im Matsch; das Feuerwerk zum vierten Juli über der Bucht, das Licht-Tentakel übers Wasser schickt; Alex und ich, wie wir lachend auf der Decke in der Brooks Street 37 liegen; Grace, die neben mir in meinem Zimmer bei Tante Carol zittert, die Arme um meine Taille geschlungen, ihr Geruch nach Traubenkaugummi. Schichten um Schichten aus Erinnerungen, ein ganzes Leben, das ich versucht habe zu vernichten und zu begraben – eine Vergangenheit, die vorbei war, wie Raven immer sagt –, taucht plötzlich wieder auf und droht mich in die Tiefe zu ziehen.
Und zusammen mit den Erinnerungen kommen auch die Schuldgefühle, die ich ebenfalls zu begraben versucht habe. Ich habe sie zurückgelassen: Hana und Grace und auch Alex. Ich habe sie zurückgelassen, bin weggerannt, ohne mich nach ihnen umzusehen.
»Die Entscheidung liegt nicht bei dir«, sagt Tack.
Und Raven: »Sei nicht kindisch, Lena.«
Normalerweise gebe ich nach, wenn sich Raven und Tack gegen mich verbünden. Aber heute nicht. Ich verdecke die Schuldgefühle mit einer Riesenmenge Wut. Alle starren mich an, aber den Blick meiner Mutter spüre ich wie Feuer auf mir – ihre ausgeprägte Neugier, als wäre ich ein Ausstellungsstück im Museum, irgendein antikes fremdes Werkzeug, dessen Zweck sie zu entschlüsseln versucht.
»Ich gehe nicht mit.« Ich knalle den Dosenöffner heftig auf den Tisch.
»Was ist los mit dir?«, fragt Raven mit leiser Stimme. Aber im Zimmer ist es so still geworden, dass es bestimmt alle hören.
Meine Kehle ist zugeschnürt, so dass ich kaum schlucken kann. Ich merke plötzlich, dass ich gleich anfangen muss zu weinen. »Frag sie«, bringe ich heraus und zeige mit dem Kinn auf die Frau, die sich Bee nennt.
Erneutes Schweigen. Jetzt richten sich alle Blicke auf meine Mutter. Wenigstens wirkt sie schuldbewusst – sie weiß, dass sie eine Betrügerin ist, diese Frau, die eine Revolution im Namen der Liebe anführen will und sich noch nicht einmal zu ihrer eigenen Tochter bekennt.
Genau in diesem Moment kommt Bram pfeifend die Treppe heruntergesegelt. Er hält ein großes blutbeschmiertes Messer in der Hand – offensichtlich hat er den Hirsch zerlegt. Sein T-Shirt ist ebenfalls blutbefleckt. Als er uns schweigend dastehen sieht, hält er inne.
»Was ist los?«, fragt er. »Was hab ich verpasst?« Dann, als er meine Mutter, Cap und Max bemerkt: »Wer seid ihr?«
Beim Anblick des ganzen Blutes dreht sich mir der Magen um. Wir sind Mörder, wir alle: Wir vernichten unser Leben, unser vergangenes Ich, die Dinge, die uns wichtig waren. Wir begraben sie unter Phrasen und Ausreden. Bevor ich anfangen kann zu weinen, löse ich mich ruckartig von der Spüle und dränge mich so grob an Bram vorbei, dass er überrascht aufschreit. Ich trampele die Treppe hinauf und stürze nach draußen ins Offene, hinaus in den warmen Nachmittag und das heisere Geräusch des Waldes, der sich dem Frühling öffnet.
Aber selbst hier draußen habe ich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich kann nirgendwohin. Es gibt keine Möglichkeit, dem erdrückenden Verlustgefühl zu entkommen, dem endlosen Davonrinnen der Zeit, die an den Menschen und Dingen, die ich geliebt habe, nagt.
Hana, Grace, Alex, meine Mutter, die Morgen voller Gischt und salziger Meeresluft in Portland und die entfernten Schreie der kreisenden Möwen – all das ist zerbrochen, zersplittert, irgendwo tief unten gefangen und unmöglich wieder freizulegen.
Vielleicht hatten sie letzten Endes doch Recht, was das Heilmittel angeht. Ich bin nicht glücklicher als zu dem Zeitpunkt, als ich dachte, Liebe sei eine Krankheit. In vielerlei Hinsicht bin
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