Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
ich herausgefunden hatte, dass er am Leben war. Kann er das irgendwoher gewusst haben? Kann er gewusst haben, dass ich mich genauso gespalten fühlte wie das arme Baby in der Geschichte?
Versuchte er mir zu sagen, dass er sich auch so fühlte?
Nein. Er hat mir gesagt, dass unsere gemeinsame Vergangenheit und das, was wir miteinander geteilt haben, vorbei ist. Er hat mir gesagt, dass er mich nie geliebt hat.
Ich gehe weiter durch den Wald und achte kaum darauf, wo ich langgehe. Die Fragen in meinem Kopf sind wie eine kräftige Tide, die mich immer wieder zu denselben Orten zerrt.
Die Geschichte von Salomo. Ein königliches Urteil. Ein Baby, das zweigeteilt wird, und Blut, das in den Boden sickert …
Irgendwann wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wie lange ich schon unterwegs und wie weit ich vom Versteck entfernt bin. Ich habe beim Gehen auch nicht auf die Landschaft geachtet – ein Anfängerfehler. Grandpa, einer der ältesten Invaliden in dem Stützpunkt in der Nähe von Rochester, erzählte immer Geschichten von Naturgeistern, die angeblich in der Wildnis lebten und den Standort von Bäumen, Felsen und Flüssen veränderten, nur um die Menschen zu verwirren. Keiner von uns glaubte wirklich daran, aber die Botschaft war mehr als wahr: Die Wildnis ist ein sich wandelnder Irrgarten, sie führt dich im Kreis.
Ich gehe zurück, halte nach Stellen Ausschau, an denen meine Schuhe Spuren im Schlamm hinterlassen haben, suche nach Anzeichen für niedergetrampeltes Unterholz. Ich verdränge die Gedanken an Alex mit aller Macht aus meinem Kopf. Es ist zu leicht, sich in der Wildnis zu verirren; wenn man nicht aufpasst, wird man für immer von ihr verschluckt.
Ich sehe etwas im Sonnenlicht zwischen den Bäumen aufblitzen: den Fluss. Ich habe erst gestern Wasser geholt und müsste den Weg zurück von dort aus eigentlich finden. Aber erst will ich mich kurz waschen, ich bin inzwischen ganz verschwitzt.
Ich trete durch das letzte Stück Unterholz auf ein breites Ufer aus sonnengebleichtem Gras und flachen Steinen hinaus.
Ich bleibe stehen.
Da ist schon jemand: Gut zehn Meter flussabwärts am gegenüberliegenden Ufer kauert eine Frau, die Hände ins Wasser getaucht. Sie hält den Kopf gesenkt und ich sehe nichts weiter als wirre graue, von weißen Strähnen durchzogene Haare. Einen Moment denke ich, sie könnte eine Aufseherin oder eine Soldatin sein, aber sogar aus der Entfernung erkenne ich, dass ihre Kleidung nicht vorschriftsmäßig ist. Der Rucksack neben ihr ist geflickt und alt, ihr Tanktop ist mit gelben Schweißrändern befleckt.
Ein Mann, den ich nicht sehen kann, ruft etwas, das ich nicht verstehe, und sie antwortet ohne aufzusehen: »Einen Moment noch.«
Ich werde ganz starr. Die Stimme kenne ich.
Die Frau zieht ein Stück Stoff aus dem Wasser, ein Kleidungsstück, das sie gewaschen hat, und richtet sich auf. Mir stockt der Atem. Sie hält den Stoff gespannt zwischen zwei Händen und dreht ihn schnell ein, dann dreht sie ihn genauso schnell wieder auf, wobei Wasser in großem Bogen über das Ufer spritzt.
Und ich bin plötzlich wieder fünf Jahre alt und stehe in unserer Waschküche in Portland, höre das heisere Gurgeln des Seifenwassers, das langsam aus dem Waschbecken abläuft, während ich ihr dabei zusehe, wie sie das Gleiche mit unseren Hemden, unserer Unterwäsche macht; zusehe, wie die Wassertropfen an die gekachelten Wände spritzen; zusehe, wie sie sich umdreht und klipp, klipp , unsere Wäsche an die Leinen hängt, die kreuz und quer unter der Decke gespannt sind, und sich dann wieder zu mir dreht, mich anlächelt, vor sich hinsummt …
Lavendelseife. Bleichmittel. T-Shirts, aus denen Wasser auf den Boden tropft. Das ist jetzt. Ich bin dort.
Sie ist hier.
Sie sieht mich und erstarrt. Sie sagt nichts und ich habe Zeit zu bemerken, wie sehr sie sich von meiner Erinnerung an sie unterscheidet. Sie ist jetzt so viel härter, ihr Gesicht voller Kanten und Falten. Aber dahinter entdecke ich ein anderes Gesicht, wie ein Bild, das direkt unter einer Wasseroberfläche schwebt: der lachende Mund, die runden, hohen Wangen, die funkelnden Augen.
Schließlich sagt sie: »Magdalena.«
Ich hole Luft. Ich öffne den Mund.
Ich sage: »Mom.«
Einen unendlichen Moment lang stehen wir einfach nur da und starren uns an, während sich Vergangenheit und Gegenwart weiterhin überschneiden und dann wieder trennen: meine Mutter jetzt, meine Mutter damals.
Gerade, als sie etwas sagen will, brechen
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