Requiem für eine Sängerin
erinnern. Ich habe meinem Jungen immer die Marken mitgebracht, deshalb haben mir alle Kameraden ihre Briefumschläge gegeben. Vic hatte drei; zwei normale Briefe und ein großes, braunes Kuvert, das nicht ausreichend frankiert gewesen war. Alle waren in Sydney abgeschickt worden.»
«Sie haben ein gutes Gedächtnis.»
«Wie gesagt, ich habe die Marken aufgehoben, und später habe ich sie mir manchmal angeschaut und versucht, den Sinn hinter all dem zu entdecken. Ich war neugierig wegen der Briefe und fragte ihn am Abend danach. Er erwähnte, dass sein Onkel gestorben sei; sagte, dass es sich um Anwaltsbriefe handele, dass er eine Erbschaft gemacht habe. Er war still, in sich gekehrt, aber er war nie ein geselliger Mensch gewesen. Heute weiß ich, dass er sich von diesem Tag an veränderte. Zuerst fiel es uns gar nicht so auf, aber irgendwann merkten wir, dass er nichts sagte. Er mied uns, und ich bekam mit, dass er kaum etwas aß. Er nahm ab.» Bayliss holte tief Luft. «Dann fingen die Albträume an. Zwei- bis dreimal pro Nacht wachte er schweißgebadet auf und schrie. Ich konnte nicht viel verstehen – er schrie immer wieder: ‹NEIN! NEIN! NEIN!› Und einmal den Namen ‹Carol›.»
«Sind Sie sicher, dass es Carol war?»
«Ja. Ich war hellwach und habe ihn deutlich gehört. Am nächsten Morgen habe ich mit ihm darüber geredet, und da fiel mir auf, dass er in einem schrecklichen Zustand war. Wenn man Tag für Tag mit jemandem zusammen ist, bekommt man so eine schleichende Veränderung nicht mit. Man denkt, man kennt jemanden, und achtet nicht drauf. Da kann einer vor deinen Augen krank werden, und du merkst es nicht einmal.»
«Ich weiß.» Etwas in Fenwicks Stimme holte Bayliss in die Gegenwart zurück; er sah ihn eindringlich an.
«Sie wissen das wirklich, oder? Also wird Ihnen klar sein, wie ich mich gefühlt habe, als mir plötzlich klar wurde, wie schlimm es stand. Als Erstes habe ich ihn aufgefordert, mir zu sagen, was los ist. Er wurde eine Gefahr für uns, aber er war auch ein Kamerad. Ich war sauer, weil er mich, uns, in eine untragbare Position gebracht hatte. Es war nichts aus ihm herauszubekommen, aber er brauchte eindeutig Hilfe. Er sah schrecklich aus. Nichts gegessen, Schlafmangel – wie um fünfzehn Jahre gealtert –, seine Haut war teigig und blass. Vic sah einfach durch mich hindurch, während ich meinen Vortrag hielt, und sagte kein Wort. Es war, als hätte er vollkommen abgeschaltet.» Bayliss holte noch einmal tief Luft. «Sein Schweigen machte mich wütend. Auch ich schlief schlecht; wir sollten nach wenigen Tagen wieder raus und waren schlecht vorbereitet. Durch seine Schuld konnten wir alle sterben. Er wollte einfach an mir vorbeigehen, da packte ich ihn am Arm. Er wandte sich im Handumdrehen gegen mich. Eben stand ich noch und redete mit ihm, im nächsten Augenblick lag ich bäuchlings auf dem Boden, und er kniete auf mir, die linke Hand unter meinem Kiefer. Ich war hilflos. Ich drehte den Kopf und sah ihm ins Gesicht, wollte es als Scherz abtun, aber ich konnte mich kaum bewegen und er hielt mir den Mund zu und drückte mit seinem ganzen Gewicht auf meine Brust. Seine Augen waren kalt, gleichgültig wie die eines Hais, vollkommen ausdruckslos. Ich hatte gedacht, wir wären Kameraden, aber ich sah nicht den Mann, den ich kannte, sondern einen Fremden, der bereit war, mich umzubringen! Ich wusste nicht, was er vorhatte, werde es nie erfahren. Ein anderer Bursche unserer Gruppe kam rein – und dachte, wir würden herumalbern. Vic stand einfach auf, klopfte sich ab und ging weg.»
Bayliss schwieg lange Zeit, dann riss er sich zusammen und schilderte, wie er mit dem Befehlshaber über den Vorfall gesprochen hatte und sie Rowland eine Zeit lang aus dem aktiven Dienst entfernten. Bis kurz vor Weihnachten hatte alles normal ausgesehen.
«Ein paar von uns nahmen an einer kleineren Gefechtsübung teil. Es war ungewöhnlich, dass wir zu so etwas herangezogen wurden, aber irgendein Schlauberger hatte entschieden, dass wir an der Reihe waren. Wir waren mit einem anderen Regiment zusammen in einem Lager. Eigentlich waren die ganz in Ordnung. Nur zwei echte Arschlöcher waren dabei, die nach ein paar Bieren zu regelrechten Großmäulern wurden, bigotte rassistische Schlappschwänze, aber mit dem Rassismus war in dem Moment Schluss, als sie unseren Jimmy Ray kennen lernten, schwarz wie das Pik-As und ein verdammter Hüne! Damit blieben ihnen nur noch Religion und Frauen als Themen für ihre
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