Requiem: Roman (German Edition)
sich zu fragen, ob Pearl das auch getan hatte. Sie hatte einen breiten Spalt zwischen ihren zwei Vorderzähnen und schmalere Abstände zwischen den anderen Zähnen, was bei einem flüchtigen Blick den Eindruck vermittelte, ihr fehlten Zähne.
*
In den Zwanzigerjahren hatte Mervyn in der Werft Harland and Wolff gearbeitet. Armeen von Männern, die sich durch das Morgengrauen bewegten. Er erzählte Robert von den Männern, die die Kessel herstellten, die Werkzeuge und Niethämmer. Eine huldvolle Zunft gelernter Handwerker. Männer, die sich aufgemacht hatten, sich dem Material ihrer Wahl zu stellen, den Verkleidungsplatten aus Gusseisen, den gewalzten Blechverkleidungen aus Kupfer.
Es waren die Zeiten aufflackernder politischer Proteste, es gab Morde aus religiösen Gründen, man munkelte von Pogromen.
»Da waren die zwei Jungs von der Falls Road, die sich als Schiffszimmermänner anstellen ließen. Die hatten echt keinen Grund, dort zu sein, keine Notwendigkeit. Dachten wohl, sie könnten sich einfach in Luft auflösen. Könnten unsichtbar schuften.«
»Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Robert.
»Ein paar aus der Bugmannschaft haben sie in die Finger gekriegt und ins Becken des Docks geworfen. Jedes Mal, wenn einer der Stutzer an den Rand des Docks geschwommen ist, hat ihm einer der Männer den Fuß auf die Hand gestellt und ihn zurück ins Wasser expediert. Dauert nicht lang, bis du müde wirst. Es war Februar und saukalt. Wir mussten mit Pickeln zu den Absperrhähnen, weil sie dick mit Eis überfroren waren. Werden so an die fünfhundert Männer um das Dock gestanden sein, und keiner hat ein Sterbenswort gesagt.«
Die Männer im Wasser verloren den Mut. Die Menge stand in Reihen um den Rand des Beckens. Alle waren sich bewusst, dass sich hier ein Spektakel anbahnte. Und die beiden wussten, was von ihnen erwartet wurde. Nämlich in die tiefe Dunkelheit abzusinken. Die Werft hatte eine ganze Menge Geister. Arbeiter, die von Schiffsgerüsten stürzten oder aus Versehen in luftdichten Rümpfen eingeschlossen wurden. Die zwei waren also durchaus am richtigen Ort. Sie würden dem Pulk der Toten beitreten und eine lobende Einführung erfahren. Als sie untergingen, standen die Männer mit ihren Mützen und Drecksjacken um das Wasser herum wie auf einem Fries von Arbeitern irgendeiner Sowjetinstitution.
Mervyns Schustergeschäft befand sich in der Ladenstraße mit Kopfsteinpflaster in der Nähe des Flusses. Robert war gerne dort. Schuhe herzustellen und zu reparieren sei etwas Rechtschaffenes, hatte ihm Mervyn erklärt. Einen Mann mit Schuhen in die Welt hinausschicken, etwas zu bewegen in seinem Verhältnis zum Grund und Boden, auf dem er wandle.
»Bankier oder Sozialhilfeempfänger, das macht keinen Unterschied für mich«, sagte Mervyn, »die brauchen alle Schuhe an den Füßen.«
Mervyn benannte die Teile der Schuhe. Die Lasche, der Rahmen. Er zeigte ihm den hölzernen Leisten, auf dem ein Schuh aufgebaut wurde. Robert liebte es, mit zwei Leisten zu spielen, er ließ sie auf dem gefliesten Boden des Ladens wie die Füße von Toten tanzen, gelenkig und klappernd.
Hinter Mervyns Arbeitsplatz lagen Hunderte von Schuhen im Regal, die niemand abgeholt hatte. Einige von ihnen standen seit vielen Jahren dort, ihr Leder war brüchig und verbeult. Robert stellte sich vor, dass die Schuhe auf ihre Besitzer warteten, dass eine hinkende, schlurfende Totenlegion sie zurückfordern und damit in der Nacht verschwinden würde.
Mervyn brachte Robert bei, wie man Stahlkappen auf Absätzen und solide Gummisohlen auf abgetragenen Schuhen anbrachte.
»Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich Schuhmacher«, erzählte er Agnes.
»Den Schuhmacher möchte ich sehen«, sagte Agnes, »du kannst doch noch nicht mal die rechte von der linken Hand unterscheiden.«
Mervyn kannte die Namen der Schiffe, die zu seiner Zeit in den Docks gebaut worden waren. The Nomadic. The Wessex. The Northumbria. Er konnte ihren Tiefgang herunterbeten, ihre Tonnage, den Schwenkbereich ihrer Netze. Er wusste Bescheid über ihre heroischen Seereisen.
»Mit Typen wie Mervyn Graham vergeudest du nur deine Zeit«, sagte Agnes zu Robert, »er wird dir nichts beibringen.«
Aber Robert hatte gelernt, dass Männer heroische Gedanken haben konnten. Sie konnten träumen, von langen Seefahrten ans andere Ende der Welt.
*
Das Jahrzehnt brachte Gangs auf die Straßen. Truppen, die in der nachindustriellen Landschaft für Alpträume sorgten. Skinheads,
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