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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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der Medizin geworden. Sagte, er hätte eine Tür mit Messingschild gehabt. Zu Hause machte er aus der Erinnerung Zeichnungen der weiblichen Geschlechtsorgane. Scheide, Uterus, die beiden Eierstöcke, wie ein beladener Baum.
    Hinter dem Bahnhof an der Edward Street in der Stadt gab es ein Zugdepot. Agnes befahl Robert, sich von dort fernzuhalten. Es war ein Lieblingstreffpunkt der Slumkinder aus dem Marschland und der Zigeunerkinder aus dem Feldlager neben dem zerfallenen Zollamt am Quai. Auf dem Heimweg von der Schule kam Robert Tag für Tag am Maschenzaun an der Rückseite des Depots vorbei. Er hörte, wie die Kinder in ihrem heiseren Straßenslang einander zuriefen. Sie kletterten, sie schwärmten aus. Sie hatten Wunden, Geschwüre und missgebildete Gliedmaßen. Eines Nachmittags konnte er nicht ein einziges der Kinder auf dem Frachthof entdecken. Es war Juli, eine Hitzewelle herrschte. Überall standen alte Ölfässer, lag Krimskrams von der Bahn herum, standen ausrangierte Waggons eingegangener Eisenbahngesellschaften, türmten sich Gleisschwellen, die in der Sonne Teeröl ausschwitzten. Ein teeriger, chemischer Geruch hing in der Luft des Nachmittags.
    Er spähte in die Schuppen mit den Motoren, in die gewaltigen Innenräume mit den Werkbrücken und merkte, dass er damit ein Gespür für das Innenleben der Stadt bekam, für ihre eisengestützte Substanz. In den Ecken der Gebäude lagen aufgetürmte Trümmer, zerlegtes Frachtgut, das klein wirkte in den gewaltigen Schuppen.
    Er kletterte über den Zaun, um zu den Nebengleisen zu gelangen, auf denen alte Eisenbahnwaggons standen. Zwischen den Schwellen wuchs Unkraut. Die Fenster der Waggons waren eingeschlagen, die Lokomotiven starr vor Rost. Er stieg in einen Führerstand und versuchte, die festgefressenen Griffe und blockierten Ventile zu lockern. Er schloss die Augen, stellte sich vor, der Kessel wäre eingeheizt und der Zug flöge durch die Dunkelheit. Er konnte vor sich sehen, wie er durch die Nacht davongetragen wurde.
    Als er die Augen öffnete, waren fünf andere Kinder im Führerstand. Drei Jungen und zwei Mädchen. Eines der Mädchen wurde von den anderen geführt, weil es in beiden Augen den grauen Star hatte. Das andere Mädchen trug ein verdrecktes Baumwollkleid. Robert sah das blinde Mädchen an. Ihr leeres, milchiges Starren kannte keine Nachsicht. Er sprang vom Trittbrett und rollte unter das Rad der Lokomotive, wo sie ihn nicht erreichen konnten. Er hörte, wie sie redeten und lachten. Robert verbrachte den ganzen Nachmittag dort unten, verloren in der Konstruktion mit all den Verschalungen, den mit Schmieröl überzogenen Aufhängungen der Achsen, den schweren Schwungrädern. Robert, der das geheime Innenleben der Dinge entdeckte.
    Nach einer Stunde linste er hervor und sah, wie die Kinderfüße sich entfernten. Die Stimmen verebbten. Er hob den Radschutz und kroch hervor. Das Mädchen mit dem dreckigen Kleid saß auf dem Fahrertrittbrett. Sie war älter, als er gedacht hatte. Er konnte die Form ihrer Brüste unter der dünnen Baumwolle des Kleides erkennen, dessen Stoff am Saum ausgebleicht war. Das fadenscheinige Material verriet ihm den Umriss ihres sehnigen Oberkörpers, mager, geschlechtsreif. Ihr Brustbein glänzte nass vor Schweiß, ihre Hüftknochen ragten hervor. Sie warf ihn zu Boden und schlang die Beine um seinen Nacken. Ihre Beine waren stark und muskulös. Er spürte die übelriechende Hitze, die von ihr ausging, an seiner Kehle, einen heißen Gestank, die Hitze des Slums.
    Als Robert im Gefängnis saß, sagte er, er werde eine Biografie schreiben. Die kummervolle Saga eines Mannes, der vom Missgeschick verfolgt wurde. Die Geschichte überwundener Nachteile, vieler überwundener Nachteile, aber eben nicht aller.
    *
    Wenn man Newry verließ und sich südwärts wandte, befand man sich im Grenzgebiet. Agnes stellte sich ein unbereistes Territorium vor, von Ängsten beherrscht. Irgendwo da draußen war die Grenze, ein Ort ungebilligter Übergänge, schwach beleuchteter Grenzposten. Agnes stellte sich nächtliche Milizen vor, die die sanften Hügel durchkämmten, Milizen, von denen man erwartete, dass sie hasserfüllt töteten.
    Als Robert zehn wurde, waren die McGladderys von Tinkers Hill nach Damolly umgezogen. Mervyn Graham, ihr nächster Nachbar, hatte eine Modelleisenbahn in der Garage. Mervyn gehörte zu einem Modellflugzeug-Verein und hatte Modellbahn-Zeitschriften abonniert. An den Wochenenden traf er sich auf ausgedienten

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