Requiem: Roman (German Edition)
fortgeschrieben wurde, dass sich Themen abzeichneten und die Story sich ausbreitete, als trüge sie selbst Material zusammen.
Wenn die Leute in Newry über den Fall reden, beziehen sie sich immer auf McGladdery und Pearl Gamble. Pearl wird jeweils mit ganzem Namen erwähnt, McGladdery nur mit seinem Nachnamen. Die Erwähnung beider Namen deutet eine Intimität an, obschon laut Gerichtsprotokoll die einzige Beziehung der beiden darin besteht, dass McGladdery Pearl umgebracht haben soll. Dennoch erwähnen die Leute immer beide Namen.
Im Archiv stößt man auf den Klatschseiten der Zeitungen auf Hochzeitsfotos. Braut und Bräutigam lachen ihr fünfzigjähriges Lachen in die Kamera. Sie schauen in den Blitz, als wären sie geblendet vom Versprechen des Lebens, das sie erwartet.
Robert und Pearl sind das düstere Gegenteil dieses Versprechens. Festgehalten im dämonischen Licht des Mordes.
*
McCrink verbrachte mehr und mehr Zeit in den zwei Räumen über der Wache am Corry Square. Speers wurde nach Belfast zurückbeordert, um wieder am Fall Bratty zu arbeiten. Anweisungen kamen von Harry West genauso wie von Brian Faulkner. Sie verlangten, täglich über den neusten Stand und sämtliche Entwicklungen informiert zu werden. McCrink ging wieder und wieder seine Notizen durch. Die Kratzer auf McGladderys Gesicht, die vom Expander stammten, wie er behauptete. Sein rätselhaftes Verhalten in den Tagen nach dem Mord. Sein in der Sickergrube versteckter Anzug. Die Wunden an seinen Händen, die sternförmig angeordneten Wunden auf Pearls Leiche.
Er fand eine Aussage zwischen den Unterlagen der Pathologie, die er noch nicht gelesen hatte. Die Aussage stammte von einer Fabrikarbeiterin, die Robert bei einem Tanz drei Wochen vor dem Mord in Warrenpoint kennengerlernt hatte. Sie beschrieb, wie Robert sie auf der Promenade begleitet hatte. Sie kamen bis zum Park, und sie war bereit gewesen, sich mit dem Rücken an die Wand der öffentlichen Toilette pressen zu lassen, und hatte den Körper erwartet, der sich an sie drückte, die Hände, die zu weit gingen, all die üblichen kleinstädtischen Zeremonien der Begierde eben. Stattdessen hatte Robert die Hände an seine Schläfen gelegt und den Kopf hin- und hergeschüttelt, als widerspreche er einer inneren Stimme, und ihr war bewusst geworden, dass sie ganz alleine hier war mit Robert, der sie plötzlich an einen Bösewicht erinnerte, der sich unter schrecklichen Schmerzen in einen Werwolf verwandelte.
»Was ist? Stimmt was nicht?«, hatte sie gefragt.
»Kopfschmerzen«, sagte er. »Oh mein Gott, all die Lichter.«
Es hatte zehn Minuten gedauert, bis Robert sich imstande fühlte, zur Bushaltestelle zurückzugehen, wo sie den Nachtbus nach Newry nahmen. Er war bleich, zitterte und sagte kein Wort. Sie ließ ihn zuerst in den Bus einsteigen und setzte sich einige Reihen hinter ihm hin. Er schlief im Bus ein, und der Busfahrer musste ihn wecken, als sie die Haltestelle in Newry erreichten. McCrink fragte sich, ob die Aussage mit Absicht zwischen den Unterlagen der Pathologie versteckt oder einfach nur falsch abgelegt worden war.
McCrinks Zimmer schien gefüllt mit dem Müll längst vergangener Ermittlungen, ein staubiger, versiegelter Ermittlungsraum, eine verbrecherische Angelegenheit, die ein schwermütiges Ende gefunden hatte. Die Fotos der Tatorte an der Wand wölbten sich an den Ecken, das Aktenpapier vergilbte. Die Fotografie von Pearl war ein elegischer Gegenstand aus einer Epoche längst vergessener Eleganz.
Er ordnete die Berichte der Autopsie, der Ermittlungen und des Kriminallabors und las sie noch einmal durch. Es gab Verletzungen an den Händen, die darauf hinwiesen, dass sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt hatte. Die Lippen waren geschwollen, das Gesicht und der Hals blutunterlaufen. Hinter dem Ohr gab es eine Einstichwunde. Die rechte Herzkammer war durchstochen worden. Doch die Wunden waren nicht die Todesursache. Die Todesursache war Strangulation.
Als Speers an einem Mittwoch spätnachmittags ins Zimmer kam, war er allein. Er hielt ein Telegramm in den Händen.
»Die Geschworenen wollen Bratty am Galgen«, sagte er.
McCrink war überrascht. Man hatte vermutet, dass Bratty wegen Unzurechnungsfähigkeit für nicht schuldig erklärt würde. McCrink hatte ihn im Gericht beobachtet, eine große kreidebleiche Gestalt, die »sich in gedämpftem, aber gefasstem Tonfall äußerte, der keine Variation kannte«, wie es der Evening Standard beschrieb. Ein Doktor namens
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