Requiem: Roman (German Edition)
Stellen geschwärzt hätte, die eine Mutter trafen, die allein gelassen worden war.
Sie fragte sich oft, was es wohl für einen Unterschied gemacht hätte, wenn Roberts Vater ihr eine Tochter geschenkt hätte. Nicht einmal dazu war er fähig gewesen. Eine Tochter wäre einer Mutter eine große Hilfe, beim Einkaufen oder um nächtelang zu reden und Geheimnisse auszutauschen. Auf Bemerkungen der anderen Frauen der Stadt hätten sie vielsagende Blicke ausgetauscht. Eine Tochter, um herauszufinden, was für Schlangen die anderen in Wahrheit waren. Eine Tochter, um mit femininen Geschenken nach Hause zu kommen, statt ein Sohn, der unter die Diebe gefallen war. Sie hätte diese Tochter fragen können, warst du jemals einkaufen und hast dich dabei wie in einem anderen Land gefühlt, vielleicht in einer jener großen Städte biblischer Zeiten, mit Menschen, die an dir vorbeispazieren und dich komisch ansehen?
Wie nimmt eine Mutter ihren Sohn an die Brust, fragte sich Agnes, einen Mann mit den angeborenen Eigenschaften seines Vaters? Wie kann so etwas eine Frucht des eigenen Körpers sein? Ein Sohn ist etwas Schreckliches, das schlecht passt.
*
In jenem August wurden Rekordtemperaturen gemessen. Hochdruckgebiete von den Azoren. Die Strandpromenade in Warrenpoint war Nacht für Nacht voller Menschen. Die Züge brachten sie aus Portadown, Belfast, Craigavon. Gangs bildeten sich. Teddys und Suedeheads trieben sich am Strand von Cranfield herum. In der Abendhitze versammelten sich Mitglieder des Oranier-Ordens in abgelegenen Hallen. Piloten und Armeeangehörige, die in Ballykinlar einquartiert waren, wurden abends in den Ort gekarrt. Im Zentrum von Kilkeel gab es Messerstechereien, in entlegenen ländlichen Gebieten religiös motivierte Übergriffe. McCrink hatte die Vorstellung, dass sich Milizionäre im Schutz der Dunkelheit herumtrieben, Geheimbünde unbekannter Herkunft. Auf öffentlichen Toiletten tauchten Schmierereien über McGladdery und den Mord mit detaillierten Angaben zum Verbrechen auf. Es war wichtig, Obszönes niederzuschreiben, die dunkelsten Fantasien der Stadt aufzuzeichnen.
McCrink fand, es seien mehr Fahrende im Lager als jemals zuvor. Kinder schwammen im Becken. Die Frauen der Fahrenden, eingehüllt in Decken, streiften durch die Stadt. Die Menschen erwarteten gemurmelte Weisheiten von ihnen, den Trost der Wahrsagerin. Sie erwarteten, dass Fahrende alte Flüche heraufbeschwören konnten und Handzeichen zur Abwehr des Bösen kannten. Margaret wies McCrink auf Schnitzereien an Torpfosten und Türrahmen hin, eckige Symbole, Runen.
»Informationen für die Nächsten, die vorbeikommen«, erklärte Margaret, »ob es ein guter Ort ist, um sich niederzulassen, wie die Leute sind. Sie sollen in der Lage sein, das Zeichen gegen den bösen Blick zu machen. Ich frage mich immer wieder, wie das wohl aussieht.«
McCrink hielt seinen Finger in das eingeritzte Symbol im Türrahmen eines Geschäftes und spürte, dass es mehr verriet als nur die Beschreibung der Bewohner. Eine Art Warnung auf einer viel tieferen Ebene, eine Bedeutung, die über Generationen weitergegeben wurde. Er glaubte, Gesänge und Bittgebete zu vernehmen, Torpfosten und Türrahmen als Wegweiser für die Seele.
»Die Fahrenden werden schlechter behandelt als Tiere«, sagte Margaret, »die Kindersterblichkeit ist vergleichbar mit der in Afrika.«
Sie glaubte, Dinge zu verstehen, indem sie sie zu Anliegen machte. Sie führte ihn zurück zu ihrer Wohnung und zeigte ihm Flugblätter über das vierzig Meilen entfernte Kernkraftwerk in Windscale. Ihre Stimme klang ehrfürchtig, als sie die Seite umdrehte. Magnox, Reaktor, Kernfusion, Entladung. Sie stimmte das technische Vokabular an, den Wortschatz der Zukunft, der sich rund um die kuppelförmigen Meiler an der schieferfarbenen Küste entwickelt hatte.
Danach gingen sie nach oben in ihr Schlafzimmer. Das Fenster war offen, die Luft im Zimmer heiß. McCrink konnte die Leute auf der Straße hören, die unter dem Fenster vorbeigingen, ihre nächtlichen Gespräche, die emporstiegen. Margaret gefiel die Vorstellung, aus dem Blick zu sein und zu flüstern. Wenn sie durch die dunkle Stadt fuhren, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre Brust. In Restaurants tastete sie unter dem Tisch nach seiner Hand. Saßen sie auf der Strandpromenade in Warrenpoint, legte sie ein Tuch über ihren Schoß und führte seine Hand darunter.
McCrink fing an, sich zu fragen, ob verhuschter Sex zum Selbstverständnis der
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