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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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wünschte sich, dass sie mit einem seltsamen Wissen im Kopf in die Welt hinausging. Er hatte einen Schädel aus Bakelit auf seinem Schreibtisch, auf dem er die Grate, Knochenvorsprünge, Konturen und Besonderheiten aufzeigte, die auf kriminelle Energie hinweisen.
    An gewissen Tagen war Doris bei klarem Verstand und erinnerte sich an The Glen. Patricia hatte sie dazu überreden wollen, ins Kino zu gehen. Sie hatte gesagt, sie solle sich Bette Davis ansehen. Sie sagte, The Glen in Whiteabbey, in dem sie lebten, sei wie ein Haus aus einem Film gewesen, etwas bewegte sich im Gebüsch. Patricia lachte und meinte, dass sie Doris vor ihrem geistigen Auge sehen könne, allein in dem großen Haus, blass und geisterhaft am Feuer sitzend. »Ich stelle mir dich allein in dieser mörderischen Nacht vor, Mutter«, hatte Patricia gesagt.
    Als Patricia siebzehn Jahre alt war, nahm sie, aus Trotz gegen ihre Mutter, eine Anstellung als Lastwagenfahrerin bei einem Bauunternehmer an. Beim Wort »Lastwagen« verspürte Doris noch immer Brechreiz. Manchmal fragte sie sich, ob die Ärzte, die sie besuchten, über Patricia und den Lastwagen des Bauunternehmers Bescheid wussten? Hatte sie ihnen von dieser Tatsache, die alles veränderte, erzählt? Patricia trug eine Arbeiterjacke und fuhr einen mit Ziegelsteinen beladenen Lastwagen durchs Land. Doris sprach am Telefon mit Patricias Arbeitgeber, aber er war ein ungehobelter Mann, der sie nur auslachte, darum verschloss Doris ihre Tür vor Patricia. Nachts weinte Patricia und bettelte: »Mutter, lass mich rein!«, doch sie hatte ihr die Tür nicht geöffnet.
    Ihr Sohn Desmond war etwas anderes. Sie widersprach ihrem Mann nicht, wenn er von Pfaffentum und Aberglaube redete, obschon es sie mit großem Stolz erfüllte, dass ihr Sohn Geistlicher geworden war, auch wenn sie seiner Priesterweihe nicht beiwohnen konnte. Desmond war momentan in Südafrika, und sie konnte sich seine Lebensbedingungen nicht einmal annähernd vorstellen, und auch nicht die Menschen, für die er sich unter der sengenden Sonne aufopferte. Es brach ihr das Herz, daran zu denken.
    Die anderen waren blind dafür, wie Patricia einen angeschaut hatte, blind für ihr eigensinniges Starren, ihre schnippische, schlagfertige Art. Doris pflegte sie zu tadeln, was zur Folge hatte, dass im ganzen Haus Türen geknallt und Gegenstände nach ihr geworfen wurden.
    Doris erzählte McCrink, wie sie in London aufgeblüht war. Doris im Ausland, in London, mit Lance, das war ein Anblick gewesen. All die großartigen Hotels. Das Ritz. Das Majestic. Doris in einem Kleid, das sie nach einem Kleid im Vogue Magazin geschneidert hatte. Doris, die in den Armen bemittelter junger Männer durch Ballsäle schwebte.
    Ihr Vater fuhr einen Humber, und Doris erinnerte sich an den Ledergeruch der Sitze. Sie dachte an die Schuhe, die Samstagnacht poliert und in einer Reihe für die Messe am Sonntag bereit standen. Samstagabend schickte sie ihr Vater jeweils in den Laden an der Ecke, um Guardsman-Schuhpolitur zu kaufen. Dort schickte man sie durch die Regale mit Seifen, Waschpulver und Desinfektionsmittel. Seifen von Daz und Sunlight, flüssige Reinigungsmittel. Mr Roberts, dem das Geschäft gehörte, bewahrte die giftigen Mittel auf dem obersten Regal auf. Warfarin, Paraquat, Natriumchlorat.
    Mr Roberts erzählte ihr von Leuten, die Gift eingenommen hatten. Kinder, die Gift aus Limonadeflaschen ohne Etikett tranken. Wie sie starben. Dem Erbrechen nahe, mit schwarzen Lippen.
    Sie erzählte McCrink, dass es ihnen in Holywell nicht gestattet sei, das Telefon zu benutzen. Sie kam immer wieder darauf zurück, dass es ihnen nicht erlaubt sei, das Telefon zu benutzen, und dass man doch nicht denken würde, dass ein Telefon und die Stimmen anderer Menschen zu hören derart schädlich sein könne. Wenn sie über das Telefon redete, schaute sie immer verschlagen. McCrink sagte sich, dies sei einfach eine Wahnvorstellung von Leuten, die sich für etwas Besseres hielten, und also ein weiteres bedeutungsloses Geheimnis.
    *
    McCrink hatte das Gefühl, die Ermittlungen im Fall McGladdery würden am Corry Square ohne ihn geführt. Johnston war fast nie auf der Wache anzutreffen. Viele Unterlagen waren an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden. Er reiste mehrmals die Woche nach Belfast, doch das Büro dort schien selbstständig zu arbeiten. Er fing an, Zeit in der Bibliothek in Newry zu verbringen. Er bemerkte, wie die Einheimischen erst ihn und dann Margaret ansahen

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