Requiem: Roman (German Edition)
und vielsagende Blicke tauschten, dabei ignorierte sie ihn während der Arbeit. Sie gab ihm die Bücher mit gesenktem Blick heraus.
Er ertappte sich dabei, wie er alte Landkarten der Stadt anschaute, grübelnd Akten studierte, Listen von Steuerzahlern und Wählern. Er spürte, dass in der Stadt über den Mord an Pearl Gamble gemunkelt wurde und dass die Leute Gespräche führten, zu denen er keinen Zugang hatte.
Er hatte begonnen, sich Bücher über psychische Erkrankungen auszuleihen. Margaret fragte ihn, ob er glaube, McGladdery sei verrückt?
»Ich hab gedacht, die Psychiater hätten ihn im Krankenhaus untersucht und ihm einen gesunden Verstand attestiert!«
Einen gesunden Verstand. Das herausposaunte Wort, formell und archaisch.
McCrink erzählte ihr nicht, dass er die Bücher nicht wegen McGladdery auslieh. Er beschäftigte sich mit den Symptomen von paranoider Schizophrenie.
Wahnvorstellungen von Verfolgung, höher gestellter Geburt oder auserwählter Mission und körperlicher Veränderungen. Halluzinogene Stimmen, die drohen oder Befehle erteilen. Auditive Halluzinationen. Halluzinationen von Gerüchen oder Geschmackswahrnehmungen, sexuellen oder anderen körperlichen Empfindungen. Visuelle Halluzinationen, die aber selten dominierend sind.
Es gab überlieferte Fälle von Patienten, die Angehörige angegriffen oder gar getötet hatten, im Glauben, sie seien der Teufel. Das waren die Sagen der Verwirrten aus den Annalen der Tollhäuser.
Sechzehn
N ach Roberts Festnahme sah Agnes Ronnie häufig auf der Hill Street. Die Zeit der tief ausgeschnittenen Oberteile und kurzen Röcke war vorbei. Sie war ein Mädchen, das wusste, was Sache ist. Agnes sah, was für ernste Gesichter die Leute schnitten, wenn sie mit Ronnie redeten, als wollten sie sagen, »das bricht einem zwar das Herz, aber du wirst drüber wegkommen«. Ronnie schaute sie mit diesem weichen Blick an, der wohl zeigen sollte, dass sie voller Trauer war. Agnes wusste, dass Ronnie lediglich über die Tatsache traurig war, keinen Mann aus seinem Ehebett zu sich gelockt zu haben. Wäre es nach Agnes gegangen, dann hätte McKnight gezittert vor Angst, vernommen zu werden. Wo waren sie in der Nacht vom 14. dieses Monats? In der Nacht des 15. dieses Monats?
Agnes hätte schwören können, dass all die Bücher und die ganze Leserei Robert in Schwierigkeiten gebracht hatten. Er nahm sich so wichtig, dass sie innerlich schrie, vergiss es, für Leute wie dich und mich gibt es in diesem Jammertal keine Würde, sondern nur Verachtung.
Sie hatte schon immer geahnt, dass sie in einer unbarmherzigen Stadt lebte, aber wie unbarmherzig sie wirklich war, hatte sie nicht erkannt. Ein Ort, in dem die Männer dachten, sie hätten Anspruch auf sie, ein Ort, in dem die Frauen in den Tea-Rooms am Strand sie anschauten, als wäre sie Dreck. Mrs McDonald, deren Ehemann Anwalt war, und Mrs Keenan, deren Ehemann Doktor war, trugen, wann immer sie Agnes begegneten, die Nasen hoch. Ihre faltigen Gesichter sahen aus, als klebte Scheiße an ihrer Nasenspitze, weshalb Agnes eines Tages auf sie zumarschierte und sie aufforderte, ihre Grimassen zu unterlassen, oder sie würde mit ihren eigenen Händen dafür sorgen.
*
Laut Bericht fügte sich Robert gut in den Gefängnisalltag ein. Am 21. Mai untersuchte ihn Gefängnisarzt James Newell: »McGladdery zeigt eine heiteres und ausgeglichenes Äußeres. Er hat den Wunsch formuliert, ›das Beste‹ aus der Situation machen zu wollen, und ist zuversichtlich, dass ›die Wahrheit ans Licht kommen wird‹.«
Newells medizinischer Bericht kam zu dem Schluss, dass Robert in einem »akzeptablen« Gesundheitszustand war, obwohl es Anzeichen auf Unterernährung in der Kindheit gab. Sein Oberkörper bewies, dass er Krafttraining machte. Sein Blutdruck war normal, die Wunden im Gesicht waren verheilt. Da er ausgeprägte Karies hatte, wurde im geraten, den Gefängniszahnarzt aufzusuchen.
Der Häftling, mit dem er die Zelle teilte, beschwerte sich über sein asthmatisches Schnaufen, das offenbar durch eine Schwächung der Lungenfunktionen hervorgerufen wurde, und das weitere Untersuchungen nach sich zog.
»Solange er nicht Scheiß-Typhus kriegt«, sagte McBride, der oberste Wärter, »lassen wir das so.«
Hughes empfahl Robert, sich nicht in die Nähe des Gefängniszahnarztes zu wagen.
»Er ist die meiste Zeit angesoffen oder verkatert. Er reißt dir den Kiefer aus und lässt dich in deinem eigenen Blut liegen. Erspar dir die Tortur, mein
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