Requiem: Roman (German Edition)
Kurt Sax, von der Verteidigung berufen, deutete auf eine psychomotorische Epilepsie.
»Das Hinrichtungsdatum ist abhängig von der Berufung«, sagte Speers, »mit etwas Glück sehen wir dieses Jahr zwei baumeln.«
*
McCrink besuchte Doris Curran den ganzen Sommer über. Der oberste Aufseher erzählte ihm, dass sie keine anderen Besucher habe. Der Richter tauchte nicht auf, und Desmond hatte seine Pfarrgemeinde in Soweto übernommen, wo er sich durch Tapferkeit im Kampf gegen die Apartheid auszeichnete. Manchmal hatte Doris lichte Augenblicke, manchmal versetzten sie die Medikamente in tiefe Stille. McCrink sagte wenig, um Doris reden zu lassen. Das hatte er in Newry gelernt. Man hielt den Mund. Man ermunterte Leute, zu schweigen.
Als Doris klein war, wollte sie Krankenschwester werden. Sie hatte Bilder von Florence Nightingale und anderen gütigen Personen aus der Vergangenheit im Kopf. Sie würde ein Instrument der Hygiene und Tugendhaftigkeit, gäbe sterbenden Männern Geborgenheit. Angesichts ihrer Einkerkerung im Holywell Mental Hospital auf Geheiß ihres Ehemannes, Richter Lance Curran, war diese Vorstellung der pure Hohn. Er hatte über sie geurteilt, hatte sie in einem selbst eingesetzten Schwurgericht verdammt und verurteilt.
Sie wusste, dass man im Trakt oft auf sie zeigte. Da geht sie, die Mutter von Patricia Curren, die ermordet wurde. Die Frau des Richters. Der Richter hat sie nach dem Mord an der Tochter weggesperrt. Sie hatten keine Ahnung, wer sie wirklich war und welche Geheimnisse sie in ihrer Brust verbarg.
In dem Augenblick, in dem sie vom Mord an Pearl Gamble erfahren hatte, wusste sie, dass Lance da sein würde, um sich, in eine Robe gewandet, zu rächen. Lance Curran waren eiskalte Beweggründe nicht fremd.
Andere Patienten bezeichneten Holywell als das schwebende Hotel, aber Doris verstand nicht, was daran schwebend sein sollte, und außerdem war ein Hotel ein Ort der Erholung und der Freizeit. Holywell war ein Krankenhaus, ein Ort der Ruhe.
Sie hört die Leute reden. Die Leute denken, sie hört sie nicht, aber sie hört sie doch. Seine lange blasse Richtergestalt. Seine lange schwarze Richterrobe. Sein schwarzer Richterverstand. Treten Sie zu mir in die Dunkelheit meines Verstandes, Euer Ehren. Doris hatte Patricias Art als Kind gestört, sie war eigenwillig gewesen. Eigenwillig wie die Schatten in diesem Krankenhaus, die nicht machten, was ihnen befohlen wurde.
Sie hatten sie auf Haloperidol und andere Psychopharmaka gesetzt. Das medizinische Personal in Holywell war überrascht von ihren Kenntnissen in Sachen Medikamente und deren Anwendung. Sie fühlte sich verpflichtet, das Personal darüber zu informieren, dass sie auf dem Gelände des Broadmoor Krankenhauses für psychisch kranke Straftäter aufgewachsen war, das ihr Vater geführt hatte, weshalb sie ihre Umgebung und all ihre kleinen Tricks durchschaute.
Doris gefiel es, über den Unterschied der medizinischen Behandlungsweisen zu diskutieren, die sie in Broadmoor und in Holywell beobachtet hatte. In Holywell waren die Angestellten wohlgesittet und respektvoll. Die Krankenschwestern trugen Weiß. In Broadmoor fragte man sich gelegentlich, wer Pfleger und wer Patient war.
Die Ärzte nahmen an, sie kenne die Wirkung der Medikamente nicht, aber sie kannte sie. Sie kannte die Dosierungen und die Gegenanzeigen, kannte den Unterschied zwischen Beruhigungsmitteln und Neuroleptika. Sie gaben ihr die Medikamente in einer Nierenschale aus Edelstahl, sie musste sie hinunterschlucken und dann flüssige Medizin aus einem Plastikbecher trinken. Broadmoor war voller Mörder gewesen, die nicht bei Verstand waren. Sie hatte diese Leute bei der Gartenarbeit gesehen, aber jeder von ihnen sah fremd aus, wie ein Reisender, den man in der Ferne wahrnimmt.
Einmal hatte ihr Vater sie in die Wäscherei der Frauenabteilung mitgenommen. Die Frauen beachteten sie nicht, und anschließend stellte sie sich die Frauen in ihren Zellen vor, wie sie über ihre einsamen Verbrechen wie Kindstötung und Giftmord nachdachten.
Mit zehn Jahren hatte sie den Wortschatz von Gestrauchelten, von Untersuchungshäftlingen und Weggesperrten gelernt, den andere Mädchen ihres Alters oder ihrer Schicht nicht kannten. Ihr war bewusst, dass die Welt aus den Fugen geraten konnte. Ihrer Tochter Patricia konnte sie das nicht klarmachen. Sie brachte es einfach nicht in ihren Kopf.
Ihr Vater hatte mit ihr Gespräche über Herkunft und Ursache von Geisteskrankheit geführt. Er
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