Requiem
Jetzt ohne Wiederholungen und die Totale mit 22 Fußballern auf dem Platz, die sich mehr oder weniger schnell mal nach rechts, mal nach links über das Spielfeld bewegten. Beaufort begriff nicht, was daran spannend sein sollte, aber offensichtlich war es das für die Zuschauer. Denn manchmal hob sich der Geräuschpegel leidenschaftlich, dann wusste er, dass er seine abschweifenden Blicke und Gedanken wieder auf den Rasen richten musste. Zweimal stupste Anne ihn sogar an, damit er nichts verpasste. Beim ersten Mal lief ein gegnerischer Spieler ganz allein auf den Torwart zu, kickte dann aber weit am Kasten vorbei, woraufhin die Fans erleichtert aufschrieen. Beim zweiten Mal schoss ein Club-Stürmer den Ball mit viel Wucht gegen die Latte, so dass ein Aufschrei der Hoffnung in einen der Enttäuschung kippte, dann aber in einen anerkennenden Beifall für den Fasttorschützen mündete. Vom Opernpublikum unterschied sich das Fußballpublikum eklatant, ging es Beaufort durch den Kopf. Doch dann fragte er sich beim Vergleich dieser beiden Welten, ob der Opernliebhaber vom Fußballfan nicht noch etwas lernen könnte. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Zuschauer die Primadonna beim Versuch, das hohe C zu nehmen, aufmunternd anfeuerten? Oder wenn sie vom Regisseur lautstark die Auswechslung eines schwach singenden Tenors forderten? Gerade bei langen Werken wäre es auch angenehm für das Auditorium, wenn es sich durch Aufspringen etwas Bewegung verschaffen und durch Aufschreien emotionalen Druck ablassen könnte. Auch langweilige und sich hinziehende Szenen würden durch lautstarkes Absingen von Gassenhauern wie dem Triumphmarsch aus Aida oder Auf in den Kampf, Torero aus Carmen befeuert und kontrapunktisch belebt werden. Und La Ola im Parkett und auf den Rängen könnte über so manche dramaturgische Schwäche eines Werkes hinweghelfen.
Anne musterte den selig lächelnden Beaufort neben sich verdutzt und fragte: »Na, gefällt es dir?«
»Ich amüsiere mich prächtig.«
»Ich habe das Gefühl, du träumst so vor dich hin und bekommst gar nicht viel mit von dem Spiel.«
»Doch, doch«, sagte Beaufort ausweichend und versuchte durch eine Fachfrage abzulenken, »ich habe mich nur gerade gefragt, wie die unterschiedlich grünen Streifen in den Rasen kommen.«
»Durchs Mähen«, sagte Anne belustigt. »Der Platzwart mäht und walzt den Rasen in zwei unterschiedlichen Richtungen. Schaut man in Mährichtung auf das Gras, sieht es heller aus als aus der entgegengesetzten Perspektive.«
»Du hast wirklich Fußballkompetenz«, sagte Beaufort anerkennend, »ich verstehe nicht, warum der BR dich nicht auch einmal ein Fußballspiel kommentieren lässt.« Er schaute zu Annes Kollegen hinüber, der gerade wieder einen Live-Aufruf hatte und in dramatischem Sprachgestus ins Mikrofon redete, obwohl sich auf dem Rasen gerade nichts weiter tat als müdes Hin- und Hergekicke im Mittelfeld. Anne drückte Frank dankbar die Hand unter dem Tischchen. Er hatte zwar keine Ahnung von Fußball und konnte das überhaupt nicht beurteilen, aber dass er so unerschütterlich an ihre Fähigkeiten glaubte, rührte sie.
Irgendwann ertönte ein langer Schiedsrichterpfiff, und die erste Halbzeit war für Beaufort überstanden. Er hatte sogar erfolgreich den Drang unterdrückt, sein Rilkebändchen aus der Tasche zu ziehen und ein wenig darin zu lesen. Denn er wusste: Dieses demonstrative Desinteresse würde Anne ihm nicht verzeihen. Sie zog sich ihr schwarzes Leibchen über und verschwand, um Stürmer Angelos Charisteas über Wechselgerüchte zu befragen, und auch Beaufort vertrat sich ein wenig die Beine.
Im Saal für die Pressekonferenz machten sich die Journalisten über Freigetränke und fettige Donuts her. Beaufort schlenderte hinten zur Haupttribüne hinaus und hielt sich in Richtung Nordkurve. Es dämmerte, und das hell erleuchtete Stadion hatte etwas von einem Raumschiff an sich. Weil er sich einen Überblick von oben verschaffen wollte, quetschte er sich gegen den Menschenstrom die Treppen hinauf und schaute von den oberen Rängen auf das vom Flutlicht erhellte Grün. Zusammen mit dem Rot der Sitze, den vielen farbenfrohen Menschen, dem Weiß des Daches und dem blassen Blaugrau des Himmels bildete das ein stimmungsvolles Ensemble. Dazu hörte er die Geräusche gut gelaunter Menschen, denn der Club war die überlegene Mannschaft und das Führungstor nur noch eine Frage der Zeit, so die hoffnungsvollen Kommentare der Fans. Eigentlich war es ganz
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