Requiem
zurück.
»Geht’s wieder besser?« Der Soko-Leiter trat auf den Balkon.
»Danke, es geht schon.« Sie lächelte tapfer.
»Ich habe Ihnen hoffentlich nicht zu viel zugemutet?«
»Das ist es nicht. Es ist die Enttäuschung. Ich hatte so gehofft, dass wir Frank befreien würden. Ich habe eine Wahnsinnsangst um ihn. Was, wenn der Mörder ihm gerade in diesem Moment etwas antut? Was, wenn er schon …« Anne wagte nicht, es auszusprechen.
»Wir sorgen uns alle um ihn, Frau Kamlin.« Er stellte sich neben sie an die Brüstung und tätschelte ihr unbeholfen den Oberarm. »Wir tun unser Möglichstes.«
Sie schauten stumm auf die nächtliche Stadt. Der Scharfschütze räumte gerade das Dach gegenüber. In der Ferne leuchtete der Businesstower, das höchste Bürogebäude Bayerns, in bunten Farben. »Wenn wir nur wüssten, wo Karim seine Opfer versteckt hält. Er ist doch erst ein knappes Dreivierteljahr in der Stadt. So gut kann er sich hier noch gar nicht auskennen«, brach Arnold das Schweigen.
»Dann ist es eben dort, wo er sich auskennt«, warf Ertl von hinten ein.
Der Soko-Leiter und die Journalistin drehten sich gleichzeitig um und starrten den Justizsprecher mit funkelnden Augen an.
»Was habt ihr denn?«, fragte Ertl unter ihren Blicken unsicher werdend. Dann hatte er dieselbe Erkenntnis wie die beiden. »Verdammt! Die Kongresshalle! Natürlich!«
Der Assistent preschte auf den Balkon. »Chef, eine Streife hat Karims Auto gefunden. Es steht vor dem Kolosseum, auf dem Parkplatz der Symphoniker.«
»Schick alle verfügbaren Kräfte sofort dorthin. Und besorg mir den Hausmeister des Orchesters.« Der Assistent machte kehrt. »Ach was, besorg mir sämtliche Hausmeister«, rief er ihm hinterher. »Und mach Dampf dahinter. Es herrscht höchste Gefahrenstufe.«
*
Rabenschwärze und Kühlhauskälte setzten Beaufort mental und physisch zu. Er hatte in der Finsternis jegliches Zeitgefühl verloren. Und er fror zum Steinerweichen. Anne, die regelmäßig Yoga und autogenes Training machte, hätte hierfür bestimmt einige Entspannungstechniken parat. Doch er machte sich über so etwas ja eher lustig. Für ihn näherte sich das schon dem Bereich der Esoterik, was Anne allerdings entschieden bestritt. Beaufort hielt auch nichts von Reiki, Homöopathie oder Akupunktur. Er glaubte an die Schulmedizin – bei Schmerzen schluckte er Tabletten – und im Übrigen an die Kraft der Logik. Er machte einen halbherzigen Versuch zur autosuggestiven Selbstentspannung und schickte gedanklich Wärme in seine vor Kälte beinahe abgestorbenen Füße, aber natürlich funktionierte das nicht. Stattdessen setzte er auf isometrische Übungen. Davon hatte Ekki ihm mal erzählt, als er nach einer Sportverletzung länger einen Gips tragen und etwas gegen den Muskelschwund tun musste. Beaufort spannte die Muskeln in seinen Extremitäten an und lockerte sie wieder. Mehr war ihm wegen der strengen Fesseln ohnehin unmöglich. So gelang es ihm immerhin, den inneren Ofen durch Muskelbewegungen bei gleichzeitigem völligem Stillliegen anzufeuern und die Eiseskälte ein wenig aus seinen Gliedern zu vertreiben.
Auch Singen war eine gute Taktik. Das wärmte ebenfalls, weil man dabei die Brustmuskeln, die Lungen und das Zwerchfell bewegte. Außerdem vertrieb es die schwarzen Gedanken. Doch sooft er etwas aus seinem Repertoire an Jazz-Standards, Opernarien und Popsongs anstimmte, brach er nach ein paar Tönen schlotternd vor Kälte und Angst wieder ab. Als er es schließlich mit Gloria Gaynors I will survive versuchte, kullerten ihm die Tränen nur so die Wangen hinunter, doch dieses Lied sang er trotzig zu Ende. Er hätte nicht gedacht, dass der Refrain des Disco-Hits einmal eine so vitale Bedeutung für ihn bekommen würde. Aber sich gehen zu lassen, war jetzt das Letzte, was ihm weiterhalf.
Er musste dringend pinkeln, seine Blase war zum Platzen gefüllt. Er war drauf und dran, die Chose einfach laufen zu lassen. Aber diese Blöße durfte er sich nicht geben. Auch in dieser absolut hilflosen Lage musste er versuchen, seine Würde zu bewahren. Das war etwas, was ihm helfen konnte, sich zu retten, falls der Mörder zurückkam. Wenn der ihn als Mensch wahrnahm und nicht bloß als Opfer, hatte er vielleicht eine Chance.
Einen kühlen Kopf musste er bewahren. Trotz seiner Gemütslage brachte ihn dieser Gedanke kurz zum Schmunzeln – das war ja nicht so schwer bei den Temperaturen hier. Er brauchte dringend eine Strategie, wie er seinem
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