Requiem
außerdem fühle er eine Erkältung im Anflug, weshalb er seinen Mantel keinesfalls ablegen könne. Diese Auslassungen wurden von seinen Anhängern mit lautem Lachen quittiert. Ob es dann nicht das Beste sei, auf seine Rede ganz zu verzichten, um seine angeschlagene Stimme zu schonen, entgegnete mitleidig-ironisch der Richter, was erneut Gelächter im Publikum, diesmal auf der anderen Seite, hervorrief. Gessner bedankte sich ebenso ironisch für die Fürsorge des Hohen Gerichts, doch handle es sich um einen beginnenden Nasenkatarrh, seine Stimmbänder dagegen funktionierten noch ausgezeichnet. Weiteres Lachen, nicht nur von seinen Anhängern, belohnte diese Replik. Damit war der humorige Teil dieses Morgens aber auch schon vorbei. Was die nächsten beiden Stunden folgte, war der ermüdendste, dümmste, frechste und empörendste Monolog, den Beaufort je in seinem Leben gehört hatte. Gessner schwadronierte mit einer unglaublichen Dreistigkeit und bizarrer Logik über den Staat, der fortwährend Geschichtslügen produziere. Er schimpfte auf den verlogenen Parlamentarismus und das korrupte Rechtssystem und verstieg sich erneut zu antisemitischen Äußerungen. Der Mord an sechs Millionen Juden habe niemals stattgefunden, der Holocaust sei die gewaltigste Lüge der Weltgeschichte, und sie diene der Judenheit, dem schlimmsten Feind der Deutschen, als politische Waffe, um sein Land zu schikanieren. Begleitet wurde das von verhaltenen Rufen aus dem Zuschauerraum, mal hörte man ein gemurmeltes »Genau!«, mal ein halblautes »Aufhören!«. Doch waren die Reaktionen nie so stark, dass der Richter die Prozessbeobachter zur Ruhe mahnen musste. Beaufort zählte wenigstens ein halbes Dutzend justiziabler Äußerungen des Angeklagten und wunderte sich, dass sich niemand darüber echauffierte. Richter, Beisitzer und Journalisten zeigten zwar durch nonverbale Signale wie Köpfe wegdrehen, Nagelpflege oder Einschlafen, was sie von Gessners Geseier hielten, aber richtig aufzuregen, so wie Beaufort, schien es keinen. Den hielt es kaum noch auf der Bank, so unerträglich war es ihm, diesem selbstverliebten Spinner zuzuhören. Es war wie eine Erlösung, als der Vorsitzende den Angeklagten unterbrach und eine Pause von 30 Minuten ansetzte. Zügig strömten die Menschen aus dem Gerichtssaal.
»Wie halten Sie dieses dreckige Gewäsch nur aus?«, wandte er sich an Lotti Bruns. »Das ist ja einfach wi-der-lich.«
»Schlimm, nicht wahr? Und so geht das schon seit mehreren Prozesstagen. Als Gerichtsreporter legt man sich eine akustische Hornhaut zu, sonst erträgt man es nicht. Aber morgen werde ich vielleicht schwänzen und erst nächste Woche wiederkommen, wenn hoffentlich endlich die Plädoyers gehalten werden. Mal sehen.«
»Was Gessner gerade alles gesagt hat, das reicht doch für mindestens drei weitere Anklagen«, empörte sich Beaufort, »warum lässt man diesen Kerl einfach ungestört weiterreden?«
»Weil der Richter ganz sicher gehen will, den Angeklagten diesmal für länger hinter Gitter zu bringen, denke ich. Gessner saß ja schon ein Jahr wegen Volksverhetzung, doch diesmal wird er bestimmt eine richtig fette Freiheitsstrafe kriegen.«
Sie gingen durch die Sicherheitsschleuse hinaus in den Flur.
»Dafür dürfte es doch mehr als genug Beweise geben. Wenn ich der Richter wäre, würde ich Gessner vom Fleck weg verhaften lassen.«
»Das ist eine längere Geschichte. Richter Cohn ist nämlich sauer auf seine Kollegen eine Instanz über ihm. Wegen Fluchtgefahr hatte er einen Haftbefehl gegen Gessner unterzeichnet. Der wurde aber vom Oberlandesgericht wieder aufgehoben. Nun lässt er den Angeklagten sich eben um Kopf und Kragen reden. Es wird schließlich alles mitstenografiert, was er sagt. Schöneres Beweismaterial gibt es nicht.«
»Und was ist, wenn Gessner tatsächlich untertaucht?«
»Dann hätte der Richter die Genugtuung, recht gehabt zu haben.« Sie suchte in ihrer Handtasche und zog ein silbernes Zigarettenetui hervor. »Kommen Sie mit runter in den Innenhof? Ich muss unbedingt eine rauchen.«
Aber Beaufort entschuldigte sich, indem er ein dringendes menschliches Bedürfnis vorschob. Das Herumstehen in zugigen Raucherecken hatte der bekennende Nichtraucher schon als Oberstufenschüler verabscheut, und so zog Lotti Bruns mit ihren Kollegen allein los. Doch die Aufregungen des Vormittags schlugen ihm tatsächlich aufs Gedärm. So überwand er seine kleine Phobie vor öffentlichen Bedürfnisanstalten und schlüpfte am
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