Requiem
Schritte waren kaum zu hören. Das lag nicht nur an seinem erbosten Geschrei, sondern auch an dem dicken Teppich in seinem Büro. Vor ihm auf dem Besucherstuhl saß sein Freund und sah nicht besonders schuldbewusst aus.
»Reg dich wieder ab, Ekki, es ist doch kaum was passiert.« Er rieb sich verstohlen den schmerzenden Brustkorb.
»Kaum was passiert? Als was würdest du denn eine Schlägerei mit Neonazis und anschließendem Polizeieinsatz bezeichnen? Als Kaffeekränzchen? Oder als Familienaufstellung?«
Beaufort grinste. »Solange du noch witzig sein kannst, besteht ja Hoffnung, dass wir vernünftig miteinander reden können.«
Ertl blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken, hielt theatralisch die gefalteten Hände vor sein Gesicht und atmete tief ein. So verharrte er drei Sekunden, stieß die Luft geräuschvoll wieder aus und sagte etwas ruhiger: »Frank, du kannst von Glück sagen, dass die Pressefutzis alle unten beim Rauchen waren, als das passiert ist. Oder hättest du gern ein Foto in der Zeitung gehabt, das zeigt, wie du gemeinsam mit Gessner von der Polizei abgeführt wirst?«
Beaufort schluckte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.
»Wie konnte es dazu überhaupt kommen? Körperliche Auseinandersetzungen sind doch sonst nicht deine Art.«
»Na ja, es war wohl mehr eine Verkettung ungünstiger Umstände«, sagte er leicht zerknirscht. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Gessner auf eine kleine Stichelei hin gleich gewalttätig werden würde.« Er fuhr sich mit der Hand durch seinen zerrauften Haarschopf.
»Ich glaube, du hast von vielem keine Ahnung, was die rechte Szene betrifft«, seufzte der Justizsprecher und setzte sich.
Dann erzählte Beaufort in aller Ausführlichkeit, was er den Morgen über im Gerichtssaal und auf der Toilette erlebt hatte. Nur seine letzte Bemerkung zu Gessner ließ er weg. Jetzt war er es, der in Rage geriet, während er von dem schwadronierenden Angeklagten berichtete und dem Richter, der ihn einfach gewähren ließ. »Du hättest dieses verblendete Sackgesicht mal hören müssen. Einer musste doch was dagegen sagen.«
»Frank, es ist völlig aussichtslos, mit so einem sachlich zu reden. Solche Fanatiker sind Argumenten einfach nicht zugänglich. Rechtsextremismus ist wie eine politische Sekte. Du diskutierst ja auch nicht mit den Scientologen oder den Zeugen Jehovas, oder?«
»Sag das nicht. Ich hatte erst neulich am Hauptbahnhof mit so einem Wachtturm -Träger ein interessantes Gespräch. Er wollte mir ein wenig Angst vor dem Ende der Welt machen – du weißt schon: Armageddon und so – und erklärte mir, dass nur seine Glaubensbrüder und -schwestern ins Paradies kämen. Da zitierte ich ihm aus der Heiligen Schrift, dass nur etwa 6 000 Gerechte ins Himmelreich kämen, und dass mir das bei ein paar Millionen Jehova-Anhängern weltweit doch eine zu schlechte Quote sei. Da war der Typ echt sprachlos.«
»Du hast die Bibel gelesen? Und du kannst daraus zitieren?«, fragte der Justizsprecher verblüfft. Er wusste, dass sein Freund Agnostiker war.
»Ja, natürlich. Es ist schließlich eines der einflussreichsten Bücher der Weltgeschichte und Grundlage unseres abendländischen Denkens. Das mit den 6 000 Gerechten habe ich mir zwar nur ausgedacht. War aber sehr wirkungsvoll.«
Sie lachten, dann wurden sie wieder ernst.
»Trotzdem verstehe ich nicht, wieso ihr Gessner hier ein solches Forum einräumt. Der verhöhnt ja regelrecht das Strafgesetzbuch. Er benutzt den Gerichtssaal als Bühne und führt euch nur vor. Nicht gerade ein Sieg für den Rechtsstaat.«
»Der Rechtsstaat hat nicht zu siegen. Er hat auch nicht zu verlieren, sondern er hat zu existieren. Glaubst du etwa, ich hätte mir Gessner im Gerichtssaal nicht schon angetan? Natürlich ist er ein widerlicher Arroganzling. Aber manchmal gibt es eben übergeordnete Interessen.«
»Und welche sollen das sein? Vaterland oder Gott?«
»In diesem Fall mehr so eine Art Halbgott. Ich schließe jedenfalls nicht aus, dass sich unser Innenminister manchmal dafür hält.«
»Für einen Karrierejuristen bist du aber ziemlich links eingestellt.« Die beiden grinsten sich an.
»Nein, ernsthaft, Frank, es gibt da Maßgaben, die die Innenministerkonferenz der Länder kürzlich zusammen mit den Justizministern in einer nicht öffentlichen Sitzung beschlossen hat. Aber Genaueres darf ich dir natürlich nicht sagen.«
»Komm, Ekki, tu nicht so geheimnisvoll«, bettelte Beaufort. »Erst fütterst du einen an, und dann
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