Requiem
Leerstand. Geradeaus, etwa 200 Meter entfernt, in Höhe der Tribünenmitte, bemerkte Beaufort einen kleinen Menschenauflauf. Während er an der Zeppelintribüne entlangging, begriff er allmählich, worauf die Leute am Fuße des Bauwerks starrten. Etliche Meter über ihnen auf der Rednerkanzel, dort wo der Führer einst seine geifernden Reden geschwungen hatte, stand eine hagere Gestalt an der Brüstung. Sie hatte ihren rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, so wie es manchmal amerikanische Touristen taten für ein Erinnerungsfoto von dort, »where Hitler used to stand.« Doch dieser Mensch deutete den verbotenen Gruß nicht nur kurz und schamhaft an, sondern stand dort ohne zu wanken, steif wie eine Schaufensterpuppe. Immer näher kam Beaufort auf die Gruppe der Schaulustigen zu, und immer deutlicher nahm er die Details einer grausigen Inszenierung wahr. Die Gestalt war Heinrich Gessner. Er war vollständig nackt, sein Körper war über und über mit Stichen und Schnitten versehrt, auf seiner hageren Brust war eine blutige SS-Rune eingeritzt, und wie bei dem jungen Neonazi in der Ehrenhalle war ihm mit schwarzem Filzstift ein Hitlerschnauzer aufgemalt worden. Der starre Leichnam war mit Hilfe von Besenstielen und Stricken an die Brüstung der Führerkanzel fixiert. Wenn der Wind dort oben durch sein schütteres Haar strich, schien der Tote für Momente wieder zum Leben zu erwachen.
Es sah ganz so aus, als ob das ein zweites Opfer desselben Täters wäre. Nur dass er diesmal offensichtlich seine dekorativen Fähigkeiten noch weiterentwickelt hatte. Der Anblick Gessners als nationalsozialistischer Schmerzensmann war grausam, aber auch so surreal, dass Beaufort nicht einmal übel davon wurde, jedenfalls nicht mehr, als ihm ohnehin schon war.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Wenn es nicht so brutal wäre, würde ich sagen: Was für ein Kitsch.« Es war David Rosenberg, mit seinem Posaunenkasten in der Hand. »Durfte da einer nicht Bühnen- oder Kostümbildner werden und verwirklicht sich nun auf diese Art?«, fragte er zynisch.
»Aber das ist doch schrecklich«, sagte Beaufort leise. »Findest du nicht, wir sollten etwas Mitleid mit dem Opfer haben?«
»Mit dieser miesen Type? Im Grunde muss man dem Mörder noch dankbar dafür sein, diesen Volksverführer ins Jenseits befördert zu haben.« Rosenberg sprach, als verkünde er ein Dogma.
»Du kennst Gessner?«, fragte Beaufort erstaunt.
»Hast du vergessen, dass ich Jude bin? Natürlich weiß ich, wer meine Feinde sind. Ich kenne Gessner von Fotos aus der Zeitung.«
Das erstaunte Beaufort. Wenn er ihm nicht erst vor drei Tagen persönlich begegnet wäre, hätte er Gessner, nackt, tot, ohne seinen Mantel und dann noch aus dieser Entfernung, bestimmt nicht wiedererkannt.
»Was machst du eigentlich hier?«, wollte er wissen.
»Ich bin auf dem Weg rüber zur Orchesterprobe.« Rosenberg deutete mit dem Arm über den Großen Dutzendteich. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich die imposante Kongresshalle.
Sirenengeheul war plötzlich zu hören, und ein ganzer Auto-Corso, bestehend aus Dienst- und Zivilfahrzeugen der Polizei, bog mit Blaulicht auf die Straße vorm Zeppelinfeld ein.
»Ich muss los. Bin eh zu spät dran. Sehen wir uns mal wieder?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte der Posaunist davon. Auch ein Geiger und ein Trompeter schlugen mit ihren Instrumentenkoffern denselben Weg ein.
War die Szenerie bislang überschaubar gewesen – zwei Streifenwagenbesatzungen hatten den mittleren Bereich der Steintribüne vor unbefugtem Betreten gesichert –, breitete sich jetzt Hektik aus. Uniformierte und Zivilisten schwirrten umher und sorgten für rege Geschäftigkeit. Es wurden Absperrungen errichtet, trotzdem strömten über das weitläufige Gelände immer neue Schaulustige, die wieder andere anriefen und mit ihren Fotohandys Bilder knipsten. Er sah Journalisten, die mit Interviews beschäftigt waren, Pressefotografen bei der Arbeit, und auch das erste Fernsehteam hatte sich eingefunden. Ein dünner Mann machte mit seiner Kamera auf der Schulter einen Schwenk über die Tribüne und zoomte danach die Leiche heran. Und zwischen all diesen Leuten sauste Ekkehard Ertl nervös umher, gab Anweisungen, die niemand zu hören schien, versuchte Gaffer wegzuschicken und wandte sich schließlich entnervt an die Einsatzleitung. Beaufort ging ebenfalls dorthin und hörte, wie Ekki darum bat, doch endlich die Leiche abzudecken, um das Fotografieren und Filmen zu
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