Requiem
etwas separiert in einem Pferch hinter Plexiglas saßen. Das war wohl der neuen EU-Lärmschutzrichtlinie geschuldet. In einem Symphonieorchester herrschte teilweise eine Dezibelzahl, die es locker mit dem Lärm eines startenden Düsenjets aufnehmen konnte. Schwerhörigkeit war eine anerkannte Berufskrankheit bei Orchestermusikern. Der Dirigent hob den Taktstock, und als hätte er die Gedanken des einsamen Zuschauers geahnt, peitschte er aus dem Klangkörper fünfmal hintereinander denselben scharfen Ton im Fortissimo heraus, der Beauforts Herz erschreckt schneller schlagen ließ. Das ganze Orchester war im Einsatz, besonders taten sich die Pauken, die voluminösen Blechbläser und die sich hochschraubenden Streicher hervor. Keine Frage, hier pochte das Schicksal mächtig an die Tür. Auch ohne Chor erkannte Beaufort, dass da zum Jüngsten Gericht geblasen wurde. Nur der Musiktheatergigant Verdi war zu solch einem dramatischen Furor fähig. Hier wurde seine Messa da Requiem geprobt – allerdings hatte das Werk mit einer Totenmesse in der Kirche nur noch wenig gemeinsam. Hier ging es um Tod, Schuld und Sühne für den Konzertsaal, erschaffen in der einmaligen theatralischen Musiksprache Verdis. Nicht umsonst bezeichneten Kenner dieses Opus als seine schönste Oper. Beaufort war erstaunt und erfreut, dem Requiem , das er erst vor wenigen Tagen mehrfach auf CD gehört hatte, hier live wiederzubegegnen, und er war neugierig auf die Probenarbeit.
Der Dirigent brach ab und nahm sich die nicht sehr synchronen Bläser vor. Anscheinend war ihm das Fegefeuer noch nicht drohend genug gewesen. »Bittschön, das sind nicht die Posaunen des letzten Gerichts, für mich klingt das mehr nach Amtsgericht.« Einige Musiker lachten aufgeräumt. »Das war zwar laut, aber nicht schön. Ich muss Angst vor Ihnen bekommen, wenn ich das höre, und nicht um Sie, ob Sie das auch schaffen. Also mehr Präzision, wenn ich bitten darf.« Er ließ die Bläser ein ums andere Mal dieselbe Passage spielen und dann wieder das ganze Orchester. Zum Schluss, fand Beaufort, klang es schon richtig gut. Und auch der Dirigent beendete die Probe mit einem verhaltenen Lob. »Na bitte, da haben wir uns doch schon bis zum Oberlandesgericht vorgearbeitet. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.«
Während die Musiker ihre Instrumente zusammenpackten – manche von ihnen hatte es sehr eilig fortzukommen – ging Beaufort hinunter an die Bühne und nickte Rosenberg zu. Der begrüßte ihn erfreut. »Mensch, Frank, super, dass es endlich mal geklappt hat. Bist du schon lange da?«
»Eine halbe Stunde vielleicht. Warum probt Ihr denn Verdis Requiem im Frühling?«
»Warum soll man so etwas immer nur im November spielen, wenn es alle anderen auch tun? Gestorben wird doch das ganze Jahr. Da kann man auch ruhig mal im April um Erlösung flehen.« Rosenberg legte seine Posaune in den Instrumentenkoffer.
»Mitten im Leben, sind wir vom Tod umgeben, meinst du? Das ist ja gerade hier auf dem Gelände leider sehr aktuell. Haben Neonazis eigentlich was mit Verdi am Hut? Nicht, dass sie euer Konzert noch als Totenmesse für zwei gefallene Kameraden missverstehen. Wann ist denn die Aufführung?«
»Sonntag in einer Woche drüben in der Meistersingerhalle. Wir haben vier echt gute Solisten engagiert. Kommst du?«
»Warum nicht? So ein Live-Erlebnis ist ja von keinem Tonträger zu schlagen. Besonders, wenn dir beim Dies irae die Vibrationen nur so durch den Bauch fahren.«
Er folgte Rosenberg hinter die Bühne und durch einen großen, breiten Flur zum Hinterausgang. Sie gingen hinaus und sogen die linde Frühlingsluft ein, in die sich ein Hauch von gebrannten Mandeln mischte. Als sie die Steintreppe hinunterstiegen, hörten sie auch die Kirmes-Musik. Hinter der Kongresshalle hatte heute das Volksfest begonnen. Rechts in der Ferne blinkte und leuchtete es von den Karussells und Fressbuden, doch die beiden Männer hielten sich links und stiegen in Rosenbergs alten blauen Renault.
»Und wohin gehen wir essen?«, wollte David wissen.
»Wie wäre es mit einem koscheren Restaurant?«, schlug Beaufort vor.
»Das wird aber eine lange Fahrt. Das nächste ist in München. Ich glaube, die jüdische Gemeinde in Bad Kissingen betreibt auch eines, aber das ist ja ähnlich weit weg. Seit wann interessierst du dich für koschere Küche?«
»Ich hab’ noch nie so gegessen und hätte es gern mal ausprobiert. Gibt es da nicht zwei Sorten Geschirr, die man auf keinen Fall mischen
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