Requiem
ihre Dienste an diesem Wochenende nicht mehr benötige.
Die Luft draußen war frühlingshaft mild, der Himmel war verhangen, nur ab und zu spitzte die Sonne ein wenig durch die Wolkendecke. Über den Kettensteg bis in die malerische Weißgerbergasse mit ihren schönen Fachwerkhäusern waren es nur ein paar hundert Meter. Gleich links, in einem schmalen alten Sandsteinhaus, lag die Werkstatt. Annette Buchfeller war keine Buchbinderin im klassischen Sinn, sondern eine echte Papierkünstlerin. Sie kreierte edle Karten, originelle Leporellos, raffinierte Zauberpappen zum Verschenken von Gutscheinen, fertigte auf Wunsch Kartons, Kästchen und Schatullen an und restaurierte natürlich auch Bücher. Er betrachtete ihr kleines Schaufenster mit den farbenfrohen Papierexponaten immer gern. Als er den nur wenige Quadratmeter großen Laden durch die dunkle Jugendstil-Holztür betrat, war schon ein Kunde darin. Frau Buchfeller begrüßte Beaufort freundlich und widmete sich dann wieder dem gepflegten alten Herrn, der für seine ziemlich zerfledderten genealogischen Bestimmungsbücher Schuber anfertigen lassen wollte. Ob es geritzte oder gefügte Pappschuber mit oder ohne Griffmulden sein sollten, war dem Mann herzlich egal, Hauptsache sie würden am Ende wieder mit rot-weißem Büttenpapier in den fränkischen Landesfarben überzogen. Die Ladeninhaberin sicherte ihm das zu, öffnete den Stahlschrank neben ihrem Arbeitstisch und legte die Bücher hinein.
»Hallo Annette, war das wohl ein Schuberfetischist?«
»Ja, der ist goldig. Der kommt alle paar Wochen und will für Bücher aus seiner Frankonika-Sammlung immer nur rot-weiße Schuber, am liebsten mit dem fränkischen Rechen drauf.«
Beaufort schmunzelte. »Dann lässt sich bei dir bestimmt auch der klassische Studienrat seine Erotika neutral einbinden.«
»Das könnte schon sein, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Du weißt: Verschwiegenheit ist mein Geschäft. Ich habe auch Militaria-Sammler als Kunden, die sich für ihre Hohenzollern-Orden kleine samtgefütterte Schächtelchen anfertigen lassen. Oder den Stifteköcher-Freak.«
»Den was?«
»Du weißt nicht, was Stifteköcher sind, Frank? Hier, schau mal.« Sie zog eine Schublade auf und zeigte ihm lauter kleine hohle Zylinder aus den unterschiedlichsten Materialen, die alle seitlich eine Lasche hatten. »Man könnte auch Stifthalter dazu sagen. Die Lasche wird in den Buchdeckel geklebt, danach muss ich meistens das Vorsatzpapier erneuern, und dann kannst du da einen Stift reinstecken, so wie bei manchen Notizbüchern. Mein Stifteköcher-Freak hat seine komplette altgriechische Bibliothek, das waren fast 200 Bände, damit ausstatten lassen.«
»Es gibt ja schon komische Vögel «, lachte Beaufort, während er sich interessiert die Werkzeuge ansah, die griffbereit an der Wand hingen: Scheren, Skalpelle, Stichel, Locheisen, Zirkel, Winkel, Falzbeine.
»Ich habe sogar einen ganz verrückten Kunden, der sich seine Krimis aufwendig in verschiedenfarbiges Buchleinen einbinden lässt, weil er die Einbände so hässlich findet«, zog sie ihn auf.
»Ich könnte sie auch in hübsches Papier einschlagen, so wie früher meine Schulbücher. Das hätte den gleichen Effekt. Aber so hast du auch etwas davon.«
»Das ist lieb von dir, dass du das Handwerk so unterstützt«, konterte sie ironisch. »Dann zeig doch mal her, deine Schätze.«
Er hievte die beiden Taschen auf den Arbeitstisch und bildete aus den Büchern vier Stapel. In das jeweils oberste Exemplar legte Frau Buchfeller einen Zettel, auf dem sie die gewünschte Farbe des Einbandes notiert hatte.
»Was ist denn das da?« Beaufort griff nach einem schiefgelesenen, aber sorgfältig restaurierten Kinderbuch, das neben einem Stapelschneider lag, und blätterte darin. Es musste sich um ein antisemitisches Bilderbuch aus der Nazizeit handeln. Er konnte zwar die Sütterlin-Schrift nicht lesen, aber die Illustrationen sprachen für sich. Da wurden zum Beispiel jüdische Kinder und Lehrer, alle mit karikierenden Hakennasen versehen, von arischen Kindern aus der Schule vertrieben. Und natürlich zog der semitische Bub das brave deutsche Mädel an seinen blonden Zöpfen. Auf anderen Seiten wurden ein jüdischer Reicher, ein gaunerhafter Viehhändler und sogar ein Frauenverführer verunglimpft. »Das ist ja ekelhaft.« Er klappte das Buch wieder zu.
»Kennst du das nicht? Das war damals ein häufig verschenktes Bilderbuch aus dem Hause Julius Streicher. Du weißt
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