Requiem
gerade ein ziemliches Eigentor geschossen. Du wolltest wohl eher sagen, wir müssen das fehlende Glied in der Kette suchen.«
Beaufort grinste. »Für eine Frau, die sich ein gemütliches Shopping-Wochenende in NRW machen will und ihrem Lover vorschwindelt, dass sie gerade in einem Bus voller Schlachtenbummler sitzt, bist du aber ganz schön keck.«
»Hey, Jungs«, rief Anne in den Bus, »Mein Freund glaubt, ihr seid Rentner auf Kaffeefahrt. Singt ihm mal was Schönes!«
»Was ist grün und stinkt nach Fisch? Werder Bremen!!!«, erschallte es aus mindestens 40 sangeslustigen Kehlen.
*
Das hatte er nun von diesen eingängigen Fußballgesängen. Die ganze Zeit während des Frühstücks ging ihm das mantraartige Schalke und der FCN nach der Melodie von Ja, mir san mim Radl da nicht mehr aus dem Kopf und er musste es ständig vor sich hinsummen. Erst als er sich an seinen Steinway setzte und ein wenig Brahms spielte, wurde der Ohrwurm durch komplexeres melodisches Material verdrängt. In den Zeitungen stand nicht mehr über den Toten auf der Zeppelintribüne, als er selbst gesehen oder erfahren hatte. Für den Täter setzte sich als allgemeiner Sprachgebrauch in den Medien der Neonazimörder durch. Nur ein superschlauer Bild -Zeitungsjournalist phantasierte etwas von einem Eiermörder, da in der Nähe des Tatorts auf der Tribüne wohl ein angeschlagenes hartgekochtes Frühstücksei gefunden worden war. Er setzte diesen Fund mit dem Ei bei der ersten Leiche in der Ehrenhalle in Verbindung. Scheinbar war der Boulevardzeitung ein Alleinstellungsmerkmal wichtiger als der verbale Schulterschluss mit den Konkurrenzblättern. Genügend blutrünstige Details gab es immer noch in dem Bericht zu lesen.
Weil Beaufort etwas mehr über die jüdische Szene in der Stadt erfahren wollte, rief er nach dem Frühstück bei Rosenberg an und verabredete sich mit ihm zum Abendessen. Er sollte gegen 18 Uhr zu den Nürnberger Symphonikern an der Kongresshalle kommen, wo der Posaunist heute Orchesterprobe hatte. Gemeinsam würden sie dann zu einem Restaurant fahren.
Als nächstes klingelte er beim Verein Geschichte Für Alle an. Er hatte vor, an einem Rundgang über das Reichsparteitagsgelände teilzunehmen. So konnte er beim Spazierengehen etwas dazulernen und womöglich herausfinden, welcher Ort auf dem Areal sich für weitere Leicheninszenierungen eignen könnte. Doch die Führungen waren an diesem Wochenende alle schon ausgebucht. Deshalb kam er auf den Gedanken, einen eigenen Sonderrundgang zu ordern. Das war möglich; man einigte sich auf morgen Vormittag um elf Uhr. Auf die Frage, wie groß denn die zu erwartende Gruppe sein werde, antwortete Beaufort: »Eher klein.«
Nach diesen Telefonaten versuchte er, am Schreibtisch ein wenig zu arbeiten. Er musste noch einen buchgeschichtlichen Essay über Wiegendrucke für die Zeitschrift Aus dem Antiquariat verfassen, das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung wartete auf eine Besprechung des Bildbandes über den Buchillustrator Walter Trier, und es war höchste Zeit, per Rundbrief die fehlenden Mitgliedsbeiträge bei den Fränkischen Bibliophilen einzufordern. Aber er konnte sich auf nichts davon so recht konzentrieren, immer wieder schweiften seine Gedanken zu den Morden ab. Am besten wäre es, ein wenig frische Luft zu schnappen. Er könnte auf dem Weg gleich bei seiner Buchwerkstatt vorbeischauen. Beaufort ging hinüber an den großen antiken Bibliothekstisch, auf dem sich die Neuzugänge stapelten: edle Pressedrucke, teure Erstausgaben, signierte Romane, Abhandlungen mit alten Kupferstichen und daneben ein Stapel Bücher, der so gar nicht zu den bibliophilen Schätzen passen wollte. Taschenbücher, auf schlechtem Papier gedruckt, und billig laminierte Hardcoverbände, die mit Bildern von Leichen in Blutlachen, gezückten Messern, schwarzen Raben und Gewehrläufen in allen Variationen – am beliebtesten waren Zielfernrohr, Fadenkreuz und Schalldämpfer – verunziert waren. Titelbilder dieser Art verursachten Beaufort ästhetisches Unwohlsein. Da er aber nun mal Kriminalromane gern mochte, ließ er sie vor dem Lesen in schönes Buchleinen binden. Er hatte sogar eine eigene Farbskala eingeführt. Je nachdem, um welche Art von Krimi es sich handelte, bekamen sie einen roten, grünen, gelben oder blauen Einband. Er verstaute die etwa 20 Bücher sorgfältig in zwei Leinenbeuteln, zog sich an und ging los. Frau Seidl teilte er mit, dass er heute etwas in der Stadt essen würde und
Weitere Kostenlose Bücher