Requiem
das Geräusch des Weckers. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Kurz darauf erhellte sich auch der Nebenraum mit der Milchglasscheibe. Der Feind hatte sich erhoben und war ins Badezimmer gegangen. Er stand dienstags, mittwochs und donnerstags sehr früh auf, denn er jobbte als Fahrer in einer Brezelbäckerei und musste dort um fünf Uhr seinen Dienst antreten. »Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns gegeißelt worden ist.« Als oben das Licht gelöscht wurde und unten in der Küche die Deckenlampe anging, war es Zeit für ihn, sich bei der Garage zu verstecken. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis der Feind aus dem Haus treten und dort sein Motorrad herausholen würde. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.« Er wickelte den Rosenkranz um seine Hand und steckte ihn in die Tasche zurück.
Ruhig und stark fühlte er sich. Heute würde es kein Missgeschick mit dem Plan geben. Leise streifte er den Rucksack ab und öffnete ihn. Er holte das Fläschchen mit den Tropfen und den Lappen heraus und steckte beides in die andere Jackentasche. Vorsichtig setzte er den Rucksack wieder auf und schlich sich langsam zum Vorgarten. Dort wollte er sich gerade aus dem Schatten der Hauswand lösen und zur Garage hinüberhuschen, als sein Herz einen Schlag lang aussetzte. Ein Leuchtpunkt hatte ihn irritiert. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit. Da, schon wieder! Orangefarbene Glut glimmte auf. Dort zog jemand an einer Zigarette. Dieser frühmorgendliche Raucher saß in einem Wagen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Und er schaute das Haus unverwandt an. Jetzt erkannte er, dass sogar zwei Menschen in dem Auto saßen. Er löste seinen Rücken ein wenig von der Wand und zog sich Zentimeter um Zentimeter zurück. Wer, außer ihm, beobachtete den Feind noch?
Er schlich einmal ums Haus herum und duckte sich auf der anderen Seite hinter eine Regentonne. Von hier aus konnte er den Eingang und das parkende Auto gleich gut beobachten, ohne gesehen zu werden. Das Außenlicht ging an, und der Feind trat vor die Haustür. Er trug eine Fleece-Jacke mit dem Logo des 1. FC Nürnberg, fixierte das parkende Auto am Straßenrand, grinste hinüber, streckte den rechten Arm aus, so dass es einen kurzen Moment lang wie ein Hitlergruß aussah, drehte dann aber blitzschnell die Handfläche nach oben und schaute theatralisch in den Himmel, als ob er Regen fürchte. Lachend ging er zur Garage hinüber, setzte den Helm auf sein weißblondes Haar und holte sein Motorrad heraus. Mit einem Tritt in die Pedale startete er es, rollte die kurze Auffahrt hinunter und fuhr schnittig die Straße der Siedlung entlang. Der Pkw, in dem zwei Männer saßen, wendete und folgte dem Motorrad. Dabei sah er, wie sich einer der beiden ein Sprechfunkgerät vor den Mund hielt.
Der Feind hatte offenbar Polizeischutz erhalten und machte sich einen Spaß daraus, seine Beschützer auch noch zu ärgern. Seine Oberlippe zitterte, und er fühlte kalten Zorn in sich aufsteigen. Jetzt wurde es noch schwerer, seinen Plan auszuführen. Aber der Gott der Rache würde ihm den Weg weisen. Er konnte nicht mehr zurück.
*
»Und was habt ihr mit dem Quintett angestellt, nachdem ich weg war?«
Frank Beaufort spitzte die Lippen und pustete vorsichtig auf den dampfenden Löffel Suppe vor seinem Gesicht.
»Was soll die Polizei noch groß machen, wenn du die Körperverletzung nicht anzeigst?«, fragte Ekkehard Ertl zurück. »Personalien aufnehmen, Ermahnungen aussprechen und sie wieder ziehen lassen.«
»Ich wollte sie nicht anschwärzen, damit ich meine Ruhe vor ihnen bekomme. Aber immerhin trug einer der Typen, die mich in den Burggraben runtergeschleift haben, ein T-Shirt mit der Aufschrift ›NSDAP‹. Das kann ja wohl nicht erlaubt sein.«
Ekki lächelte wissend. »Das Tragen oder Anbringen von verbotenen verfassungswidrigen Symbolen wird hart bestraft. Die Justiz versteht da überhaupt keinen Spaß. Bei aufgemalten Hakenkreuzen auf der Jacke oder tätowierten SS-Runen auf dem Oberarm droht mindestens eine deftige Geldstrafe, manchmal auch Gefängnis. Das Gesetz erlaubt bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe.«
»Und das Zurschaustellen von Hitlers Partei auf der Brust gehört nicht dazu? Das kann ich mir nicht
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