Resturlaub
ausgerechnet, wie lange ich mit meinem OnlineKonto durchhalten könnte, ohne zu arbeiten: Es sind exakt vier Monate. Ich strecke mich, so gut das mit dem für iberische Zwerge optimierten Sitzabstand geht und schiele neidisch auf meinen friedlich schlummernden Sitznachbarn, einen DeutschArgentinier, der Alex heißt und angeblich Kreuzschlitzschrauben schmuggelt, weil es die in Argentinien angeblich nicht gibt. Mit seinen schwarzen, kurzen Haaren und sportlichen Klamotten ähnelt Alex eher einem schwäbischen Tennislehrer als einem argentinischen Schraubenschmuggler. Und hätte er sich nach dem Abendessen keine Valium eingeworfen, hätte ich vielleicht noch das eine oder andere über mein Reiseziel erfahren. »Die Businessclass des kleinen Mannes«, hatte er grinsend gesagt und seine Pille mit einem Becher Rioja runtergespült. Ich war sauer, schließlich hätte ich so viele Fragen gehabt über Buenos Aires. Ich konnte ja schlecht zur Stewardess gehen und sagen »Entschuldigung, ich wandere gerade aus und da würde es mich natürlich interessieren, wie das Land so ist, in das ich fliege.«
Im Ronda, dem Iberia-Bordmagazin, war leider auch nichts
über Argentinien zu erfahren, außer, dass es an Chile grenzt und an Brasilien und natürlich, dass es ziemlich groß und ziemlich weit weg ist. Ich strecke mich und schaue mich ein wenig in der Passagierkabine um. Auch die letzten Fluggäste erwachen inzwischen aus ihrem Economy-Schlaf: die französische Reisegruppe rechts von mir, das ältere argentinische Ehepaar mit den vielen Decken hinter mir und der orthodoxe Jude vor mir, dessen riesiger Hut den Bordmonitor in der Nacht derart verdeckt hat, dass ich von Mr. und Mrs. Smith nur Herrn Schmidt und von Ice Age 2 bestenfalls das linke Drittel sehen konnte. Ich habe ewig überlegt, wie ich ihn höflich bitten könnte, den Hut abzunehmen, aber aufgrund des besonderen deutsch-jüdischen Verhältnisses ist mir keine einzige vernünftige Formulierung in den Kopf gekommen. Vielleicht sind ja Teile seiner Familie durch die Nazis umgekommen und dann tippt ihn so ein dummer Deutscher im Flieger an und sagt: »Entschuldigen Sie bitte, aber ich kann das Eichhörnchen nicht sehen!«
Wieder schaue ich durch mein kleines Flugzeugfenster und erkenne inzwischen einzelne Straßenzüge, die allesamt quadratisch angeordnet sind. Das ist sie! Die Stadt in der ich nun leben werde!
Ich überlege mir, ob einer dieser kleinen Gitterplätze schon für mich vorgesehen ist. Vielleicht fliege ich ja in dieser Sekunde über mein zukünftiges Apartment, meinen Garten, meinen Grill? Oder den Grill eines Freundes? Vielleicht mache ich ja in ein paar Wochen gerade Kaffee um diese Zeit, blicke lächelnd durch ein Fenster hinaus in den Morgen und sage: »In genau diesem Flieger saß ich auch mal! Aus Nürnberg bin ich geflüchtet, das war vielleicht was.«
Nur: Zu wem würde ich es sagen?
Alex, der Deutsch-Argentinier ist inzwischen aufgewacht und jetzt mustert er mich mit seinen geschwollenen Augen von Kopf bis Fuß.
»Wie biste überhaupt angezogen?«
»Wie soll ich denn angezogen sein?«, frage ich und zupfe an meiner Hose. Ich finde, dass ich ganz normal aussehe, bis auf den Schlitz und den Kratzer am Bein: kurze, braune Hose mit ziemlich vielen Taschen dran, mein bunt gestreiftes Lieblingshemd von Quicksilver, ebenfalls kurz, und braune Retro-Turnschuhe von Adidas.
»Ich bin ziemlich deutsch angezogen, oder?«
»Ach was! Wie für'n Badeurlaub!«, kichert Alex und reibt sich die Augen. Ich weiß nicht wirklich, was er damit meint.
»Aber wir fliegen schon nach Argentinien, oder?«
Mit einem Ruck setzt sich Alex auf und stellt seine Sitzlehne senkrecht.
»Stichwort Südhalbkugel, mein Freund. Wo kommen wir her?«
»Aus Madrid!«
»Und was war da?«
»Nacht!«
»Die Jahreszeit, du Doof!«
Ich finde, dass der Kreuzschlitz-Tennislehrer ziemlich unverschämt ist zu mir, auch wenn wir soeben eine Nacht miteinander verbracht haben, »Ach so . Sommer war bei uns!«
»Siehste! Und weil der liebe Gott Europa auf die Nordhalbkugel geklebt hat und Argentinien auf die Südhalbkugel, haben wir dort ...?«
Betreten blicke ich auf meine Shorts.
»Winter?«
»Exakt! Frühstück hab ich verpasst, oder?«
Ich nicke stumm. Frühstück hat er verpasst. Ich hab aber offenbar noch ein bisschen mehr verpasst.
»Wie kalt isses denn da jetzt?«, frage ich verunsichert.
»Na ja, Winter halt. So irgendwas zwischen 5 und 10 Grad, vermute ich mal, aber du
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