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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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klang so scharf wie ein Messerschnitt. »In Ixion ist Sittsamkeit eine Sünde.«
    »Wen bringst du uns da, Charlonge?« Ein Riper erschien am Kopf der Treppe. Sein helles Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und seine Haut war weiß wie Milch. Retra spürte, wie die Luft um ihn herum stillstand. Sie zwang sich, sich aufzurichten.
    »Eine kleine Fledermaus, die von der Wiedergeburt kommt, Forlorn«, sagte Charlonge. »Sie hat sich verirrt, bevor ihre Kleider verbrannt werden konnten.«
    Mit eingesunkenen Augen spähte der Riper voller Argwohn zu ihnen herunter. »Kümmere dich darum.«
    »Ja, Forlorn. Selbstverständlich.«
    Er glitt einen dunklen Korridor hinunter, bis er außer Sicht war.
    Charlonge bedachte Retra mit einem harten Blick. »Denk immer daran, warum du hierhergekommen bist. Suche Vergnügen, andernfalls lassen sie dich schneller altern.«
    Retra nickte. Sie musste das unbedingt lernen.

5
    Retra lag in einem schmalen Bett. Der schimmernde blaue Satinstoff ihres neuen Nachthemds fühlte sich auf ihrer Haut sündig an. Die steife weiße Spitze ihrer Unterwäsche streifte die weichen Stellen ihres Körpers, als wolle sie sie an ihre Dekadenz erinnern.
    Charlonge hatte alles für sie herausgelegt, bevor sie gegangen war. »Trag das«, sagte sie. Außerdem hatte sie ihr einen kleinen, mit einer Nummer versehenen Schlüssel an einer dünnen Goldkette gegeben. »Zu jedem Ruheplatz gehört ein Schrank, zu dem ein Schlüssel passt. Darin findest du Kleidung. Dieser Schrank steht in allen Kirchen in demselben Zimmer. Es gibt viele Zimmer, daher merk dir, dass sich deines im Narthex befindet, beim Haupteingang.
    »Wie kommen sie dorthin? Die Kleider, meine ich?«
    »Die Riper suchen sie für uns aus, und die Uther bringen sie.«
    »Was sind Uther?«
    »Die Diener der Wächter. Sie übernehmen die niederen Tätigkeiten, beschaffen das Essen und kümmern sich um die Kleider.«
    »Wie sehen sie aus?«
    Charlonge runzelte die Stirn. »Es ist schwer, die Uther zu beschreiben. Irgendwie nimmt man sie gar nicht richtig wahr.«
    »Aber woher bekommen die Riper das Essen und die Kleidung? Ixion liegt doch so weit ab von allem. Woher wissen sie, was mir passt?«
    »Sie wissen alles über uns. Wenn du dich umziehst, wirf die Kleider in den Sammelbehälter. Sie werden gereinigt und anschließend wieder in eines von deinen Fächern gebracht.« Charlonges Mundwinkel hoben sich zufrieden. »Alles Alltägliche muss uns nicht kümmern. Das ist eines von Ixions – Lenoirs – Geschenken an uns. Für unseren Lebensunterhalt ist gesorgt; wir bekommen alles, was wir wollen, solange wir uns an die Regeln halten. Die allerdings gelten absolut, auch wenn es nur wenige sind.«
    Retra rief sich das Bild des schönen, angsteinflößenden Wächters in Erinnerung. »Warum tut Lenoir – warum tun sie das? Warum haben sie diesen Ort für uns überhaupt erschaffen?«, fragte sie. Das kühle, süße Getränk, das Charlonge ihr aufgedrängt hatte, musste ihre Zunge gelockert haben.
    Charlonges Lächeln wirkte nun bemüht. »Es ist nicht an uns, solche Fragen zu stellen. Sie wollen, dass wir Spaß haben. Das ist alles.«
    Sie ging. Und jetzt, als Retra horchte, wie die anderen durc h die Kirchentüren eingelassen wurden, fragte sie sich erneut, warum den Ripern so an ihrem Vergnügen gelegen war. Was hatte Charlonge noch gesagt? Die Erinnerung an ihre Unterhaltung wurde bereits undeutlich. Schwächer. Und war dann ganz verschwunden, als ihr Geist für ein paar Stunden dämmerte, gefangen in der Welt der Wachträume – die vor allem von Joel handelten. Aber da waren auch andere Bilder: die schlingernde Fähre, die unebenen, moosfeuchten Steinwände ihres Hauses und die kalte Miene ihres Vaters, als er entdeckte, dass sie weggelaufen war, um ihren Bruder zu suchen.
    Wie sehr würde er sie dafür hassen. Wie beschämt er sein musste.
    Zwei aus derselben Familie , würden die Oberen in Seal sagen, befleckt von Lust und den Verlockungen der Lasterhaftigkeit . Die anderen Familien würden ihre Eltern fortan meiden. Niemand würde ihnen Trost anbieten.
    Als Retra den Zustand des Wachträumens verließ, spürte sie einen dumpfen Schmerz in der Kehle. Mutter, es tut mir leid . Sie schluchzte lautlos, ein leises, innerliches Weinen.
    Dann wurde ihr plötzlich bewusst, wo sie sich befand, und mit einem Schlag war sie wach. Sie setzte sich im Bett auf und rubbelte sich mit den Fingern über das Gesicht.
    Schlummernde Körper, ebenfalls in Satin und Spitze,

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