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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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»Flugaugen.«
    Suki schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Manchmal sind es auch Drakuline. Ich habe einen in einer Höhle vor der Stadt gefangen, in der ich wohne, und ihn mir auf den Rücken geschnallt.«
    »Was ist ein Drakulin?«
    Suki verdrehte die Augen. »Die musst du doch kennen! Riesige Fledermäuse mit Flügeln, die größer sind als … zwei Bergstiere. Sie fressen sich gegenseitig.«
    »Du meinst Echo-Orter.«
    »Klar, wenn du sie so nennen willst.«
    »Woher wusstest du, wohin der … Drakulin, den du gefangen hast, fliegen würde?«
    »Hast du denn gar keine Ahnung? Das ist doch Allgemeinwissen. Drakuline fliegen im Winter nach Ixion.«
    Staunend starrte Retra sie an. »Aber ich habe gehört, dass ihr Biss dazu führt, dass man ausblutet?«
    Unbekümmert warf Suki den Kopf zurück. »Tja, aber ich lebe noch.« Sie schob Retra auf den Beichtstuhl zu. »Los, du bist dran.«
    Vorsichtig trat Retra in die kleine, dunkle Kabine. Beichten kannte sie aus Grave. Dort verhängte der Priester die Strafen für das, was sie den Mut hatte zu beichten, durch ein stromgeladenes Gitter. Was gewöhnlich Verzicht bedeutete: Verzicht auf Essen oder Gespräche und manchmal auch auf Schlaf. Als sie gebeichtet hatte, dass sie die Angel Arias gehört hatte, hatte er vier Schläge mit der Schlangenpeitsche angeordnet.
    Physischer Schmerz ist die beste Form der Läuterung, hatte er gesagt.
    Ihr Vater war es gewesen, der sie ausgepeitscht hatte, doch die Enttäuschung auf seinem Gesicht hatte sie noch mehr geschmerzt als die Schläge. Sie hatte den ganzen Tag geweint.
    Als die Tür des Beichtstuhls hinter ihr zufiel, füllte ein süßer, moschusartiger Dampf ihre Lunge. Wofür sollten die Riper sie jetzt schon bestrafen wollen? Sittsamkeit ist eine Sünde, hatte Charlonge gesagt.
    Retra war verwirrt – und begann zu zittern.
    Plötzlich glitt das Gitter zurück. Sie keuchte auf.
    Dort saß der Riper von der Fähre, ein körperloser Kopf in dem kleinen Sichtfenster, die Augen wie gewohnt kalt und forschend. »Was darf’s denn sein, kleine Fledermaus?«
    »Warum fragst du mich das? Was soll ich beichten?«, platzte sie heraus.
    »Deine Sehnsüchte«, zischte er und neigte das Fensterbrett zu ihr hinüber. Daraus klappte ein kunstvoll gearbeitetes Schränkchen mit schmalen Fächern auf, in denen je eine Tablette lag in Gestalt bunter Kapseln, Dragees, Pastillen oder kleiner Kugeln. »Such dir aus, was dir gefällt.«
    »Ist das Medizin?«
    Ihr war, als krabbele sein Lächeln wie ein schleimig-feuchtes Tier über ihre Haut. »Ja, wenn du so möchtest.«
    Es kostete Retra einige Überwindung, die Finger in Richtung der Fächer zu strecken. Pass dich an. Gib ihnen keinen Grund zu denken, du seist anders … Schließlich entschied sie sich für eine blassrosa Pastille, die eine weniger ausgefallene Farbe hatte als die anderen.
    »Ausgezeichnet«, sagte er. »Verzückung. Die musst du kauen.«
    Retra stand auf, um zu gehen, doch als sie die Tür aufdrücken wollte, öffnete sie sich nicht. Sie versuchte es noch einmal mit aller Kraft, bevor sie sich erneut zu dem Riper umwandte.
    »Runter damit!« Sein Lächeln war verschwunden, zurückgeblieben war nur der kalte Blick.
    Retra überlegte, ob sie ablehnen sollte, doch die Enge des Raumes versetzte sie in Panik. Er könnte sie hier einschließen. Er könnte auch …
    Sie nahm die Pastille zwischen die Lippen. Sie schmeckte so bitter wie eine unreife Zitrone und krümelte im Mund wie kalter, trockener Kuchen. Dann knabberte sie ein wenig vom Ende ab.
    »Alles«, befahl er. »Und beeil dich, Fledermäuschen, die anderen warten schon. Hast du Angst, dich zu vergnügen?«
    »Nein, n-natürlich nicht.« Sie schob sich auch den Rest der Pastille in den Mund, kaute und schluckte sie in groben Klumpen herunter.
    Plötzlich fiel ihr das Atmen in der kleinen Kabine schwer. Sie brauchte Weite und Licht, die kühle regenfeuchte Luft in Grave. Ihr wurde heiß, der Samt klebte an ihr, kratzte auf ihrer Haut.
    »Bleib schön auf den hellen Wegen, kleine Fledermaus«, sagte der Riper.
    Retra erhob sich und drückte die Tür auf. Dieses Mal ließ sie sich leicht öffnen, und sie stolperte hinaus.
    »Warte auf mich«, sagte Suki, als sie hineintänzelte.
    Aber Retra hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Um sie herum begann die Kirchenhalle zu flimmern und wie ein wild und schwer schlagendes Herz zu pulsieren: Erst war sie näher, dann wieder weiter entfernt. Das Kerzenlicht verschwamm, lief

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