Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
golden schimmernde Spiralen, die über die Wand der Gondel tanzten. Sie hätte Suki gern gefragt, ob sie sie auch sah, fürchtete aber, sie könnte verrückt klingen.
Dann fuhr die Gondel in eine Station ein und kam ächzend zum Stehen.
Eine Gruppe mit weißen Kopftüchern drängte sich durch die offenen Türen, und Suki stellte die Füße auf den Boden, um Platz zu machen. Sie lachten und sangen. Retra wollte mit den Fingern durch ihre Worte kämmen und an ihnen lecken. Bestimmt waren sie saftig und zart … im Mund. Ein Mädchen ließ sich auf den Sitz vor ihnen fallen. Ihr Haar, das unter dem Kopftuch hervorquoll, war noch röter als Rollos, und sie trug lilafarbenen Lidschatten bis zu den Augenbrauen. Die anderen kamen und wollten sich neben sie setzen, zögerten dann aber und gingen weiter.
Als sich die Kabinentüren bereits schlossen, sprang ein Junge mit Igelhaaren, die halb unter dem weißen Tuch verborgen waren, auf die unterste Stufe. Er schob seinen muskulösen Arm zwischen die Türen, die Sensoren hielten sie an, und die Gondel bremste. Er ließ sich Zeit, die restlichen Stufen zu erklimmen und blickte sich dann um, weil er wissen wollte, wer sich noch an Bord befand. Als ihn ein paar der anderen Jungen riefen, hob er zur Antwort die Hand zum Salut. Seine Bewegungen waren auffällig langsam und bedächtig. Sein Haar glänzte wie das Seegras, das an Graves Steinstrände gespült wurde. Von ihrem letzten Ausflug zum Strand hatte Retra ein bisschen Seegras mit nach Hause gebracht, damals, vor Jahren, als Joel nicht viel größer war als sie und ihre Mutter noch gelächelt hatte.
Der Junge ließ sich schwer auf den Sitz ihnen gegenüber plumpsen, neben das rothaarige Mädchen.
»Was für ein Auftritt. Das hat er bestimmt einstudiert«, sagte Suki zu laut.
Der Junge drehte sich herum und starrte sie an. Schweigen legte sich über die Gondel.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Suki.«
»Ganz schön große Klappe, Suki. Du solltest besser vorsichtig sein.«
Suki wurde zornig. »Genau wie du.«
Plötzlich hatte Retra eine Vorahnung. Sie musste eingreifen. Den Bruch verhindern. »Suki ist aus Stra’ha«, sagte sie. »Sie ist daran gewöhnt … Männern zu sagen, was sie tun sollen.«
Der Blick des Jungen wanderte zu ihr. Seine Augen zeigten Intelligenz und großen Stolz. »Wer bist du?«
»Retra.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich komme aus Seal Süd. Aber das verstehst du nicht.«
»Was?«
»Du verstehst nicht, was es heißt, ein Seal zu sein.«
Er starrte sie noch einen weiteren Moment an, dann lachte er. Schließlich nahm er zwar nicht ihre Hand, drehte sich aber wieder um und ließ sich in seinem Sitz zurücksinken. Erneut begannen alle zu reden, und Sukis Schultern entspannten sich.
Retras Vorahnung war vorüber.
Das rothaarige Mädchen mit dem starken Augen-Make-up kletterte auf die Knie und beugte sich über die Lehne ihres Sitzes. Sie zeigte zur Seite auf den Jungen. »Das ist Kero. Er ist der Anführer der White Wings«, sagte sie. »Ich bin Krista-belle. Ich bin mit ihm zusammen.« Sie klang, als wäre sie stolz darauf.
»White Wings? Was ist das?«, fragte Suki.
»Unsere Gang. Es gibt noch andere. White Wings, Ghosts und Freeks. Wir haben uns nach Fledermäusen benannt, aber nur nach denen, die Blut saugen.« Ihre Augen glitzerten. »Du wirst noch früh genug von ihnen erfahren. Die Whites sind aber die besten. Wir kümmern uns um die Unseren. Die Ghosts nehmen jeden, ohne Aufnahmeprüfung, ohne Fragen. Und die Freeks sind einfach krass.«
Retra hörte sie, ohne wirklich hinzuhören. Die Worte des Mädchens nahmen Gestalt an und flatterten wie Schmetterlinge aus ihrem Mund heraus. Beinahe hätte sie die Hand ausgestreckt, um sie zu fangen.
»Das Wichtigste, was ihr Neulinge euch merken müsst, ist: Geht nicht auf den Seitenpfaden.«
»Dort geht man verloren«, ergänzte ein Junge von der anderen Seite des Ganges. Unter dem Kopftuch war er rasiert. Er saß auf den Knien eines Mädchens, das unter seinem Gewicht stöhnte und kicherte. »Dann kann selbst die League sie nicht retten.«
»Die League ist furchterregend«, sagte das Mädchen.
»Nicht mehr als wir.«
Das Mädchen steckte die Zunge heraus. »Clash ist viel furchterregender als du.«
Der Junge rieb seinen Hintern an ihren Knien, worauf sie noch lauter stöhnte.
Retra zwang ihre Lippen, die Worte zu bilden. »Wer ist Clash?«
»Ihr seid echt brandneu hier, was?«
Bevor Suki oder Retra antworten konnten, klickte
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