Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
würde ja sagen, Naif passt zu dir – aber du hast noch genug Zeit, um selbst eine Wahl zu treffen. Komm mit mir, dann zeige ich dir deinen Schrank und wo du etwas essen kannst.«
»Ist Charlonge dein angenommener Name?«, fragte Retra, während sie dem älteren Mädchen folgte.
»Ja. Als ich älter wurde, begann ich Dinge zu sehen – die, die eigentlich nicht sichtbar sind. Aber mein Volk verachtet das Okkulte. Irgendwie schien mir ›Charlonge‹ zu passen. Es bedeutet Anerkennung, weißt du.«
Retra wusste nicht, was Charlonge meinte. In Grave glaub te man nicht an Okkultes, doch man verachtete es auch nicht. Dort war es eine größere Sünde, fröhlich zu sein, als die dunklen Künste zu praktizieren.
»Wer ist dein Volk?«
»Die Lidol aus Lidol-Push.«
»Aus einer anderen Welt?« Verblüfft schnappte Retra nach Luft.
Dieses Mal lachte Charlonge frei heraus. »Du bist wirklich naiv. So solltest du schon jetzt heißen. Das ist keine andere Welt, dummes Fledermäuschen, sondern eine andere Provinz. Grave ist nicht das einzige Land in der Nähe von Ixion.«
Verlegen und erstaunt starrte Retra sie an. »Wie viele andere Länder gibt es denn?«
»Viele.« Sie lachte. »Ich habe schon mal jemanden so wie du reagieren sehen. Bist du das, was man einen Seal nennt?«
Retra nickte.
»Aaah. Dann ist es mit deiner Bildung nicht weit her. Eure Oberen schirmen euch ab. Du darfst dir deine Unwissenheit nicht anmerken lassen.«
»Wie ist dein Land? Wie sieht es dort aus? Wo liegt es genau?«, fragte Retra.
Aber Charlonge schüttelte den Kopf. »Vielleicht antworte ich ein anderes Mal darauf. Vielleicht auch nicht. Aber jetzt musst du dich für die Dämmerstunde umziehen. Da kannst du deine Schlafkleidung nicht tragen.«
Als sie am Fuße der Treppe angekommen waren, schwoll die Musik mit einigen seelenvollen Akkorden an, jeder Ton schöner und trauriger als der letzte. Sie rührten Retras Sinne.
»Charlonge. Die Musik. Wer spielt da? Vom Balkon aus konnte ich es nicht gut erkennen.«
Charlonge antwortete nicht gleich. »Aaah, endlich ein gutes Zeichen von dir. Du bist nicht die Einzige, die mich das fragt. Er ist wie du – eine kleine Fledermaus. Aber nicht für lange, denke ich. Sein Name ist Markes, und er hat Flügel. Glänzende, juwelenbesetzte Flügel.«
Markes war also hier. Cal hatte sie angelogen!
Charlonge winkte Retra, sie wollte sie durch die Eingangshalle zu einem Raum führen, der früher wohl einmal die Garderobe der Kirche gewesen war. Jetzt war er angefüllt mit Reihen von Schränken und mannshohen Spiegeln. »Das hier nennen wir das neglegere . Dahinter liegt der Waschraum. Such deinen Schrank und wähl deine Kleidung für die Dämmerstunde aus. Gegessen wird im Querschiff, anschließend legst du die Beichte ab und machst dich wieder auf den Weg. Es fällt auf, wenn jemand zu lange bleibt.«
»K-kann ich denn zurückkommen?«
»Natürlich, wenn du ruhen musst, aber erst, wenn du auch woanders gewesen bist. Junge Fledermäuse gehen gern auf Erkundungsreise.« Sie wollte sich abwenden.
»Charlonge, ich suche jemanden …«
Langsam drehte sich Charlonge wieder zu ihr um, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Sicher einen Jungen.«
»Ja. Aber nicht … so. Ich suche meinen Bruder. Er und ich … wir sehen uns ähnlich, aber er ist größer und muss schon vor einer Weile hierhergekommen sein. Ich … vermisse ihn, also bin ich ihm gefolgt.«
Charlonges Miene wurde wachsam. »Weißt du, wie viele nach Ixion kommen? Wie viele ich sehe? Warum sollte ich mich da an einen Jungen mehr als an einen anderen erinnern können?«, flüsterte sie scharf.
Retra errötete, getroffen durch die plötzliche Änderung in ihrem Ton. »Kannst du mir sagen, wo ich suchen soll? Wo soll ich anfangen?«, fragte Retra leise.
»Gar nicht. Vergiss deinen Bruder.«
Und damit ging Charlonge und ließ Retra allein zurück, unsicher, was sie nun tun sollte.
Ihre Unentschlossenheit fand schon einen Moment später ein Ende, als sich vier Mädchen an ihr vorbeidrängten. Kichernd und laut redend suchten sie nach ihren Schränken und zogen ihre neuen Kleider heraus – wie Vögel, die ein altes Nest aus dünnen Ästen auseinanderzupfen.
Retra folgte ihnen und sah sich nach dem Schrank mit der Nummer auf ihrem Schlüssel um. Wieder zögerte sie, bevor sie ihn öffnete.
Eines der Mädchen zog ihr Nachthemd aus und schlang einen dünnen, durchsichtigen Schal um ihren nackten Körper. »Soll ich so gehen?«
Kichernd
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