Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
gegessen.
Retras Gedanken wanderten zu Joel. Wenn er sie gebeten hätte, irgendwo zu warten, hätte sie es getan. Also ging sie wieder zurück in den Club, um auf Suki zu warten, doch dieses Mal nahm sie nicht den Lift, sondern die Wendeltreppe, wo weniger Gedränge herrschte.
Als sie die Stufen hinunterging, stieg ihr wieder die Musik zu Kopf, doch die Wirkung der Verzückungspastille schien inzwischen nachgelassen zu haben, denn die Lust zu tanzen war nicht so stark wie vorher. Der heiße, pochende Chip in ihrer Handfläche erinnerte sie daran, dass sie Ruhe brauchte.
Sie spähte durch die Finsternis hinter der Treppe. Unter diesem Ende des Podiums war weniger los. Man saß an Tischen und auf Hockern. Im hinteren Bereich standen Trennwände in L-Form. Sie ging hin und warf einen Blick hinter eine.
Ein Paar lag auf einer Couch. Retra sah ihre verschlungenen Beine und Hände, die sich unter der Kleidung des jeweils anderen bewegten. Schockiert zog sie sich zurück.
»Was’n los, Retra-Seal?«, nuschelte ihr eine Stimme ins Ohr.
Retra zuckte zusammen. Es war Krista-belle aus der Gondel, von den White Wings. Sie schwankte, als hätte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten, außerdem roch ihr Atem sonderbar, nach verbrannten Orangen.
»Hast du das Mädchen gesehen, mit dem ich gekommen bin? Suki?«, fragte Retra sie.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und streckte den Zeigefinger aus. »Muss mich nur mal kurz da drinnen hinlegen. Fühl mich nich’ so gut.«
»Wo ist dein … wo ist Kero?«
»Kann ihn nicht finden.« Unglücklich zuckte sie mit den Schultern und torkelte hinter eine der Trennwände.
Retra überlegte, ob sie ihr folgen sollte, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts passierte, entschied sich dann aber dagegen. Sie kannte Krista-belle nur flüchtig und war nicht für sie verantwortlich. Stattdessen umrundete sie einmal die Tanzfläche, die jetzt sogar noch voller war als eben noch, um nach Suki Ausschau zu halten, bis sie wieder an derselben Stelle vor den Trennwänden angekommen war. Mittlerweile brannte ihre Handfläche. Sie musste sehen, dass sie hier wegkam.
Vielleicht konnte sie Krista-belle bitten, Suki auszurichten, dass sie zurück in Vank war.
Sie ging zu der Trennwand und klopfte.
Als keine Antwort kam, warf sie einen Blick dahinter.
Krista-belle konnte sie nirgends entdecken, aber eine Riper-Frau lag mit auf der Couch, mit dem Rücken zu Retra. Ihr Mantel und ihre Stiefel hoben sich deutlich gegen den hellen Bezug ab.
Gerade als sich Retra zurückziehen wollte, erregte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit: eine Hand, zur Faust geballt, die auf den Rücken der Riper-Frau einschlug.
Krista-belles Hand .
Retra wusste, was diese Bewegung zu bedeuten hatte. Sie hatte sie selbst schon gemacht, in ihren Träumen, wenn sie nach dem Kopf des Aufsehers geschlagen hatte, der sie festgehalten hatte, um ihren Schenkel zu begaffen.
Sie ging ein paar Schritte näher. Stimmen waren nicht zu hören, die Musik übertönte alles, und Einzelheiten waren im Dunkeln schon gar nicht zu erkennen. Doch von der Seite sah sie ganz deutlich das vernarbte Gesicht der Frau.
Brand .
Sie wollte weglaufen, konnte es aber nicht. Sie kannte diese verzweifelte Bewegung. Die kalte Angst in ihrem Bauch wurde wärmer, bis sie allmählich kochte. Sie versuchte das wütende Sprudeln mit der Disziplin der Seal zurückzuhalten, versuchte ihre Gedanken zu beruhigen.
Ruhe ist mein Lohn.
Ruhe ist mein Lohn.
Wenn ihr Vater sie ausgepeitscht hatte, hatte sie niemals ihre Wut gezeigt. Oder wenn er sie mit Nahrungsentzug bestraft hatte. Noch nicht einmal als der Aufseher ihren Schenkel und die weicheren Stellen drum herum betatscht hatte, hatte sie die Selbstbeherrschung verloren …
Ruhe ist mein Lohn.
Ruhe ist mein …
Doch dieses Mal ließ das Mantra sie im Stich. Bei Brands Anblick, wie sie auf Krista-belle lag, stieg eine Wut in ihr auf, die mit jedem Atemzug heftiger wurde und heißer brannte. Den Aufseher hatte sie nicht aufhalten können, aber nun konnte sie …
Die Riper-Frau bewegte sich und kauerte nun über der nackten Brust des Mädchens. Krista-belles rotes Haar fächerte auf, als sie sich mit angstverzerrtem Gesicht von ihr wegreckte.
Retra rannte in den Clubraum und sah sich suchend nach … etwas, nach irgendetwas um. Sie packte einen Hocker und lief, ihn hoch über dem Kopf erhoben, zurück.
»Hör auf!«, schrie sie.
Aber der Riper hörte sie nicht – oder wollte sie nicht hö ren.
»Bitte …
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