Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
lichtreflektierenden Bändern geschmückte Decke und die glitzernden Kugeln, die über ihrem Kopf schwebten. Die Kugeln schickten kleine Strahlen aus, die Muster aus Punkten auf die Gesichter und Glieder der Tänzer darunter malten. Ein Lift mit offener Kabine schob sich an einem Gerüst hoch und runter, um die Neuankömmlinge auf der Tanzfläche auf der untersten Ebene abzusetzen und dann wieder nach oben zu kommen. Am anderen Ende dieser Ebene befand sich eine schmale Wendeltreppe, doch niemand schien sich die Mühe zu machen, sie zu nehmen. Alle zogen es vor, aus den Seiten der überfüllten Kabine zu hängen.
Suki sah noch einmal zu ihr zurück. »Geh nicht ohne mich«, rief sie, bevor sie zu dem Lift hinüberrannte.
Retra sah ihr nach, unsicher, was sie tun sollte. Die Beleuchtung war schummriger als in Vank. Vielleicht konnte sie hier unbemerkt warten, bis Suki genug hatte. Aber die Musik hatte etwas an sich, das sie nicht zu ignorieren vermochte. Das Wummern des Schlagzeugs kroch ihr in die Brust und an ihren Gliedern entlang. So wie Markes Gitarre eben gerade machte es ihr Lust, sich zu bewegen.
Angezogen von der Quelle nahm sie den nächsten Lift nach unten. Am Rand der Tanzfläche blieb sie stehen. Sie spürte, wie sich der Strom aus der Energie der Tanzenden speiste, als er zwischen ihnen hindurchjagte, an ihrem Gelächter und ihren beiläufigen Umarmungen entlang, und sie miteinander verband.
Ein Junge fasste sie am Arm. »Komm«, rief er.
Sie ließ sich von ihm auf die Tanzfläche ziehen. Hier kam ihr die Musik viel tiefer und dichter vor. Sie versuchte den Jungen nachzuahmen, doch ihre Bewegungen waren steif und ungelenk, als wäre sie lange auf engem Raum eingezwängt gewesen und hätte jetzt auf einmal genug Platz, um sich zu bewegen.
Vor ihr wirbelte und hüpfte der Junge und feuerte sie an. Und tatsächlich, allmählich lockerten sich ihre Glieder.
Der Rhythmus änderte sich, stampfte schneller und schneller. Die Menge wogte näher heran und begann wie auf Kommando zu hüpfen, sodass ihr nichts anderes übrigblieb, als mitzumachen, um nicht erdrückt zu werden. Sie badete in der Energie, die die sich bewegenden Körper ausstrahlten. Ihr Herz klopfte wild und Hitze stieg wie ein leuchtender Heiligenschein von ihrem Kopf auf. Ihr Haar löste sich, Körper stießen gegen sie und zogen sie mit sich hoch und runter, als wären sie zu einem einzigen Tänzer geworden, einem Ton, einem Herzschlag.
Sie zog das Band aus ihrem Haar.
Ein Herz, das ewig schlug, Musik, die ewig weiterspielte. So lange, dass sie jedes Zeitgefühl verlor, so lange, dass selbst ihr veränderter Stoffwechsel ermüdete, so lange …
Und dann, auf einmal, hörte es auf. Die Musik verstummte – wurde ihr entrissen.
Die Menge wurde langsamer und brach auseinander, verwirrt, verloren ohne den Zweck, für den sie hier war. Retra versuchte das Gefühl zu halten, wollte es noch einmal haben. Noch nie hatte sie sich so hell, so strahlend und weit gefühlt. Doch der Junge, mit dem sie getanzt hatte, war verschwunden, während ihre Handfläche sich heiß anfühlte. Sie warf einen Blick auf den Chip. Hatte sie tatsächlich so lange getanzt, dass sie schon wieder ruhen musste?
Niedergeschlagen und verloren wanderte sie ziellos durch die Menge, die zu den Getränkestationen strebte. Sie musterte die Gesichter, in der Hoffnung, Joel zu finden. Doch sie fühlte sich so benebelt, dass sie die Gesichter nicht richtig erkennen konnte.
Dann fuhr sie mit dem Lift zurück auf die oberste Ebene und ging durch den Eingang nach draußen. Zwar lehnten die Riper noch immer neben der Tür, doch Brand war nicht mehr da. Ihre prüfenden Blicke machten sie nervös.
Sollte sie nach Vank zurückkehren und sich dort ausruhen? Oder auf Suki warten? Das Mädchen aus Stra’ha schien so viel netter zu sein als Cal. Trotzdem – sie hatten sich gerade erst kennengelernt. War es möglich, so schnell Freundschaften zu schließen? In Seal sprachen die Mädchen nur auf dem Weg zum und vom Unterricht kommend miteinander. Eine – Toola – hatte immer nach den Gebeten bei dem Bleistiftstrauch auf sie gewartet, wo sie dann Ziegenkäse und süße Brötchen miteinander geteilt hatten. Toola hatte sie ständig nach Joel ausgefragt: wie er war, worüber er gesprochen hatte. Und wenn Retra antwortete, leuchteten ihre Augen. Dann war Joel verschwunden, und Retras Familie hatte einen Aufseher bekommen. Von da an hatte Toola sie gemieden, und Retra hatte allein
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