Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

kannte, fiel ihr schwer. Und doch hatte er ihr getraut.
    Mit jedem Schritt wurden Retras Zweifel stärker als ihre Überzeugung. Mehrmals dachte sie daran umzukehren.
    Dann hörte sie neben den Stufen ein Kratzen.
    Mag dich. Riechst gut .
    Sie presste die Hände auf die Ohren.
    Meins . Die Stimme war immer noch klar und deutlich zu hören.
    Ein Schrei drängte ihre Kehle hinauf und blieb dort stecken, raubte ihrer Lunge die Luft. Sie suchte weiter unten nach Rollo und Suki, aber die waren am Fuß der Treppe verschwunden. Vielleicht waren sie schon auf der anderen Seite der Wand.
    Sie sollte zurück nach Illi laufen. Oder zur Gondelstation. Aber was, wenn Joel dort unten war? Was, wenn sich ihr Bruder ganz in der Nähe aufhielt?
    Komm zu mir.
    Sie gab einen Laut von sich, ein raues, ängstliches Geräusch, das ihre Kehle etwas freier machte, sodass Luft zurück in ihre Brust strömen konnte. Sie rannte weiter bergab. Nicht hinfallen. Bloß nicht hinfallen. Nicht hinfallen.
    Unsichtbare Finger fassten nach ihren Knöcheln, doch sie hob die Füße höher, sodass nur ihre Zehen den Steinboden berührten. Heißer Atem strich über ihren Hals, und etwas berührte ihre Arme, überall, wie feuchtkalte Küsse. Sie schlug um sich und wusste nicht, ob sie sich das nur einbildete.
    Joel. Joel. Sei da. Bitte, sei da.
    Ganz plötzlich endeten die Stufen, und aus der Dunkelheit erhob sich eine Wand. Ihre Hände schlugen so fest gegen den Fels, dass sie es bis hinauf in die Schultern spürte. Verzweifelt umfasste sie das kühle Eisen einer geschwungenen Türklinke und drückte so fest sie konnte, doch nichts rührte sich. Also ließ sie los und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.
    »Alter des Zorns«, rief sie. »Alter des Zorns.«
    Plötzlich schwang die schwere Tür nach innen auf. Sie stolperte hindurch, an hochgewachsenen, mit spitzen Stöcken bewaffneten Jungen vorbei, in Rollos wartende Arme hinein.
    »Warum hast du so lange gebraucht?« Sein Grinsen war von dem Leuchten Hunderter Laternen unheimlich verzerrt.
    »Ihr habt mich allein gelassen«, keuchte Retra.
    »Pscht«, machte Suki. »Es fängt an.«
    Retra löste sich von Rollo und spähte in die Grotte hinunter. Im Licht der Laternen saßen einhundert oder mehr Gangmitglieder in lockerer Formation auf dem Felsboden einer Art Höhle, allerdings ohne Decke. In den Wänden waren zahlreiche Hohlräume, in denen Statuen standen – viele jedoch beschädigt. In einer davon erkannte Retra einen Dolmen – die drei senkrecht aufgestellten Steine einer Grabkammer, mit denen die formellen Gewänder der Ältesten von Grave bestickt waren.
    Über Teile der Felswand rankten sich Klettergewächse mit exotischen weißen Blüten, die mit ihrem süßen Duft die Luft erfüllten und in ihrer blassen Schönheit der Grotte etwas Ätherisches verliehen.
    »Was ist das?«, flüsterte Retra.
    »Mondblumen«, sagte Suki. »Sie öffnen sich nur in der Nacht.«
    »Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
    »Wahrscheinlich ist es dort, wo du herkommst, zu kalt dafür. Sie mögen die Wärme. In Stra’ha finden wir sie am Fuß des Berges. Aber nur im Sommer.«
    Retra hätte sie gern angefasst, ihr Aroma eingeatmet, aber die Menge unter ihr begann zu klatschen.
    »Ich muss näher heran«, flüsterte Retra Suki zu.
    Das Mädchen nickte. »Da drüben.« Sie streckte den Finger aus. Die drei gingen um den Vorsprung herum und stiegen die Stufen hinunter, bis sie direkt über der hintersten Reihe standen. Die White Wings mit ihren Kopftüchern waren unmittelbar vor ihnen. Zur Linken saß eine Gruppe, deren Leute Stacheln um Hals und Handgelenke trugen.
    »Das sind die Freeks«, sagte Rollo. »Die sehen wie Federkiele aus.«
    Suki unterdrückte ein Kichern. »Was sind das da für welche – die mit den weißen Umhängen?«
    »Das sind die Ghosts. Die Umhänge sind aus den Häuten von alten Gespensterfledermäusen gemacht. Sie sammeln die toten Tiere und nähen sie zusammen. Manche lassen sogar die Köpfe dran.«
    »Und die anderen? Wer sind die?«, fragte Retra. Die Gruppe, die den White Wings gegenübersaß, trug normale Partykleidung, so wie sie und Suki und Rollo. Nur die in der ersten Reihe hatten Tuniken und Hosen aus Glattleder an, die den Rüstungen ähnelten, die Retra aus ihren Geschichtsbüchern kannte.
    »Das muss die League sein«, sagte Suki.
    »Ich frage mich, wie sie an diese Kleider kommen. Meine liegen in meinem Schrank für mich bereit.«
    »Weil wir neu hier sind«, sagte Rollo.