Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

abzuwehren.
    Sukis Lippen waren nah an Retras Ohr, als sie sich aneinanderklammerten. »Drakuline jagen junge Fledermäuse, aber wenn sie menschliches Blut riechen, dann haben sie es auch darauf abgesehen.«
    Am liebsten wäre Retra einfach davongerannt, doch ihr Geist schien wie taub für alles andere als die Gruppe, in der sich alle aneinanderdrängten.
    Eine Fallbö fuhr über sie alle hinweg, dann fluteten helle Lichter den Weg. Die wilden Drakuline schreckten zurück, als ein enorm aufgeblähtes Objekt herabsank, das von Strahlern, die an seinem Bauch angebracht waren, beleuchtet und von angeleinten Drakulinen gezogen wurde. Über der League schwebend kam es zum Stehen.
    Eine Rampe fuhr aus der Kabine des Zeppelins heraus und senkte sich an Seilen so weit herab, bis sie fast den Boden erreicht hatte.
    »An Bord«, brüllte Dark Eve.
    Die Gruppe der Geretteten kletterte hinauf, wobei einige beinahe auf der unebenen Plattform ausgerutscht wären.
    Dann schrie jemand hinter Retra: »Riper!«
    Als sich die Menge teilte, um den Weg frei zu machen, wurden Retra und Suki auseinandergerissen. Ein Riper streifte Retra, als er an ihr vorbeirannte, und sie fiel auf die Knie. Er blieb stehen und hob sie ohne jede Anstrengung wieder auf.
    Sie starrte hinauf und in ein ausnehmend schönes, blasses Gesicht, das von glattem, schwarzem, seidenem Haar umrahmt war.
    Lenoir!
    Als sie sich in die Augen sahen, in diesem kurzen Moment des Erkennens, lag in seinem Blick ein wilder, hungriger Ausdruck. Wie hypnotisiert von der Intensität seines Blickes konnte sie nicht atmen.
    Dann kamen noch mehr Riper nach: Modai und Test und andere, die Retra schon bei der Wiedergeburtszeremonie gesehen hatte.
    Lenoir ließ sie los, und plötzlich war ihr, als würde ihr mit einem Schlag alle Energie entzogen.
    Seine Augen weiteten sich voller Überraschung, so als hätte er es auch gespürt. Er wollte etwas sagen, doch da ertönte erneut der Warnruf.
    »Riper!«
    Lenoir drehte sich weg, winkte seine Leute zusammen, und dann rannten sie zusammen den Weg hinunter.
    Die Echo-Orter schwangen sich höher, und der Zeppelin stieg mit der halb eingezogenen Plattform auf. Die Leaguaner stellten den Kampf ein und flohen vor den Ripern über die Seitenpfade. Einige der Riper verfolgten sie, doch die anderen blieben stehen und kamen danach wieder zurück.
    Suki und Rollo zerrten an Retra. »Schnell, weg hier.«
    Retra spürte dieselbe Panik. Sie wollte nicht von den Ripern befragt werden. »Wir sollten nach Vank gehen.«
    Doch als sich die Menge drinnen zurückzog, den Flur hinunter und auf die weite Tanzfläche strömte, wurde sie erneut von ihnen getrennt und musste allein die Gondel nehmen.

13
    In der Station von Vank angekommen wartete Retra nicht auf Suki, sondern machte sich gleich auf die Suche nach Charlonge. Sie fand die Betreuerin oben in der Galerie, wo sie der Orgelmusik lauschte und auf das Treiben in der Haupt halle hinunterblickte. Charlonge trug ihr Nachthemd, ein cr emefarbenes ärmelloses Hängerchen mit schwarzen Rüschenborten am Saum und am Ausschnitt. Mit einem Arm presste sie ein schmales Pergamentbuch an die Brust. In der Hand hielt sie ein kleines Fernglas.
    Der Anblick des Buches überraschte Retra. In Grave hielt der Rat alle Bücher unter Verschluss. Ihre Mutter ging einmal in der Woche in die Bibliothek, um dort zu lesen, doch das hatten ihr die Aufseher untersagt, nachdem sie ihre Familie auf Bewährung gesetzt hatten.
    »Warum hast du mich angelogen?«, fragte Retra.
    Erschrocken fuhr Charlonge von ihrem Stuhl hoch, doch als sie erkannte, wer sie angesprochen hatte, ließ sie sich wieder zurücksinken, als wäre sie müde. »Du solltest dich ausruhen, kleine Fledermaus.«
    »Ich habe heute Abend meinen Bruder Joel gesehen. Man nennt ihn Clash, und er ist in Dark Eves Gang.«
    »Pscht!«, flüsterte Charlonge. Sie hastete an das Ende der Galerie und legte das Fernglas in ein kleines Schränkchen neben einige andere. Dann schloss sie die schmale Tür und vergewisserte sich, dass die Schatten leer waren, bevor sie etwas sagte. »Weißt du eigentlich, was passiert, wenn sie das hören … hast du mit ihm gesprochen?«
    Retra nickte langsam, erstaunt über Charlonges nervösen, beinahe aufgeregten Gesichtsausdruck. »Joel sagte, ich sollte hierbleiben. Dass du auf mich aufpassen würdest. Aber du hast mir gesagt, du würdest ihn nicht kennen.«
    Charlonge fasste Retra am Arm und zog sie näher an sich heran. »Dark Eve ist Ixions