Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
sehr vorsichtig sein, Retra.«
»Oder?«
Charlonge ließ ihre Hand sinken und ging zur Galerietür. »Oder du wirst vorzeitig abgezogen.« Sie öffnete die Tür und glitt wie jemand, der in der Kunst des Verschwindens geübt war, hindurch. »Und nun geh und ruh dich aus, bevor du zusammenbrichst.«
14
Retra fand die Räume für die petite nuit am anderen Ende der Galerie. In einem entdeckte sie Suki in einem ärmellosen Hängerchen aus schwarzem Satin. Rollo, der in dem Bett daneben lag, trug nur rote seidene Boxershorts. Beide hatten die Augen geöffnet, doch sie starrten ins Leere, woraus Retra schloss, dass sie tief in petite nuit versunken waren.
Sie fand ein leeres Bett, streifte die Schuhe ab und schlüpfte unter die Decke, ohne sich die Mühe zu machen, sich zuvor noch umzuziehen.
Sie döste unruhig und träumte von Flüsterstimmen, ungewollten Berührungen und Streit mit Joel. Dämonen erschienen und verschwanden wieder zum Rhythmus von Markes’ Musik. Sie suchte in der Dunkelheit nach Markes, doch sie fand nur Cal. Das weißhaarige Mädchen redete auf sie ein, allerdings in einer Sprache, die Retra nicht verstand. Dann kamen die Gesichter der Riper näher und immer näher, bis sie aus petite nuit aufschreckte. Blinzelnd sah sie sich um.
Suki saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, zusammen mit Rollo. Sie spielten ein Fingerspiel, wobei jeder versuchte, den anderen zuerst zu fassen zu bekommen. Suki gewann mühelos.
Rollo bemerkte Retra und stupste Suki an. »Sie ist wieder da.«
Suki hüpfte vom Bett. »Wir haben schon auf dich gewartet. Wir sterben vor Hunger. Los, gehen wir uns umziehen.«
Retra streckte sich und stand schnell auf. Jetzt, da sie sich erholt hatte, befiel sie auf einmal eine starke innere Unruhe. »Ich nehme ein Bad.«
»Rollo sagt, wir sollten zum Essen ins Blissed.«
»Wo ist das?«
»Kurz vor Bella Death. Da gibt es superleckere Würstchen.«
»Warte auf uns, bis wir uns angezogen haben.«
Rollo hielt sich den Bauch. »Auf euch warten? Bis dahin bin ich verhungert.«
Suki ging zum neglegere voraus und unterhielt sich mit Retra durch den Wandschirm, während diese badete. Ihr banales Geplauder rann über sie hinweg wie das Wasser, beruhigend und reinigend.
Als sie in ein Handtuch gewickelt wieder herauskam, war der Umkleideraum voll mit schläfrigen Mädchen, die ihre Schließfächer inspizierten und sich miteinander unterhielten.
»He, du bist doch die Seal, die Krista-belle gerettet hat«, sagte eine von ihnen laut. Sie zog sich ein Netztop über den Kopf, durch das man die Spitzen ihrer Brüste sah.
»Ihr Name ist Retra«, sagte Suki. »Sie gründet ihre eigene Gang. Wollt ihr mitmachen?«
Retra starrte Suki erschrocken an.
»Wie willste sie denn nennen?«, fragte ein anderes Mädchen mit grellpinken Strähnen in ihrem kurzen schwarzen Haar.
»Naifs Chosen«, sagte Suki ohne zu zögern.
Am liebsten hätte Retra ihrer Freundin die Hand auf den Mund gelegt, um sie zum Schweigen zu bringen, doch Suki war jetzt in übermütiger Stimmung.
»Die Chosen werden das tun, wofür eigentlich das Jugendkomitee da ist. Nur besser. Sie werden dafür sorgen, dass uns die Riper zuhören.«
»Klingt langweilig«, sagte die mit den pinkfarbenen Strähnen. »Ich mag die League. Die sind echt cool. Clash ist superhübsch.«
»Wir tun aber mehr. Retra weiß sich zu helfen«, sagte Suki.
»Wir denken mal drüber nach«, sagte das Mädchen mit dem Netztop.
Als sie gegangen waren, fuhr Retra Suki an: »Warum hast du das getan?«
Suki zuckte die Achseln. »Wie Krista-belle sagte: Du bist berühmt. In meinem Dorf sagt man: Halt das Glück mit beiden Händen fest, wenn es deinen Weg kreuzt. Eines Tages wurde meine Freundin Rani auf dem Pass von einem Bär angegriffen. Er hätte sie beinahe getötet, doch dann rutschte er auf den Felsen aus und fiel in eine Spalte. Sie wartete, bis er verhungert war, und kletterte schließlich hinunter, um ihn zu häuten. Als sie mit dem Fell auf dem Rücken ins Dorf zurückkam, dachten alle, sie hätte den Bären erlegt. Für ihren Mut bekam sie einen Sitz im Senat der Stadt und ihre Familie erhielt im Winter mehr Feuerholz und Trockenfleisch.«
Ehe Retra etwas sagen konnte, zog Suki eine Schublade in ihrem Schrank auf. »Hast du dich schon mal geschminkt?«
Überrascht von dem schnellen Themenwechsel, schüttelte Retra den Kopf.
»Ich habe den anderen dabei zugesehen. Ich glaube, ich weiß, wie’s geht. Komm mal her.«
Seufzend ergab sich Retra
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