Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
in ihr Schicksal. Tatsächlich lenkte sie das Anmalen der Augen und Lippen sogar ein wenig ab, sodass sie sich einen Moment lang weder Sorgen um Joel machte noch an Markes oder Lenoir denken musste. Immer noch spürte sie die Berührung des Ripers, und der Gedanke an seinen hungrigen Blick ließ ihren Magen nervös flattern.
Als sie und Suki fertig waren, gingen sie zu Rollo.
»Na los, holt euch eure Aufputscher. Meinen hab ich schon.« Er streckte die Hand aus. Ein blaues Kügelchen rollte darin herum.
»Nein. Damit sehe ich seltsame Dinge«, sagte Retra.
»Was denn?«
»Dämonen«, flüsterte sie.
»Dämonen! Das ist doch fou! «, rief Suki.
Als sie Retras Verwirrung sah, erklärte sie: »Verrückt, meine ich, wahnsinnig wie die Knochenfresser, die auf halbem Wege zwischen unserem Dorf und den Männern weiter unten leben. Weißt du, warum wir sie Knochenfresser nennen? Früher haben wir dort unsere Toten vergraben, bis wir entdeckten, dass sie die Knochen aus den Gräbern ausgraben, weil sie glauben, dass sie dadurch stärker werden. Sie glaubten nämlich, dann wären sie irgendwann in der Lage, uns unser Dorf abzunehmen. Sie sind fou – verrückt geworden durch den Sauerstoffmangel in dieser Höhe.« Dann fügte sie grimmig hinzu: »Jetzt verbrennen wir unsere Leichen, und das Problem ist gelöst.«
»Nett«, sagte Rollo.
»Nein«, sagte Retra stur. »Ich will nichts.«
»Wie du meinst.« Suki marschierte zum Beichtstuhl und ließ Rollo und Retra allein zurück.
Retra spürte die neugieren Blicke derer, die sich auf den Weg in die Clubs machten.
»Du bist wirklich berühmt«, sagte Rollo. »Alle haben dich angesehn.«
Retra seufzte. »Suki hat ein paar Mädchen erzählt, dass ich meine eigene Gang gründe. Das muss sich wohl herumgesprochen haben.«
»Was?« Rollo brach in Gelächter aus. »Du?«
Retra bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wechselte das Thema. »Willst du dem Jugendkomitee immer noch erzählen, was du in Grave gesehen hast?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass man ihnen trauen kann. Kero denkt, dass sie Spitzel der Riper sind. Vielleicht sollte ich es lieber Dark Eve sagen.«
»Das könnte gefährlich sein.«
»Dieser Ort ist gefährlich.«
Die Mädchen, mit denen Suki im Umkleideraum gesprochen hatte, schlenderten gerade kichernd und miteinander flüsternd vorbei.
»So denkt nicht jeder hier«, sagte sie und wünschte sich auf einmal, so sorglos wie diese anderen sein zu können.
Rollo, der ihnen ebenfalls nachsah, leckte sich gespielt lüstern die Lippen. »Ich glaube, ich habe die falschen Freunde. Auuu!«
Suki war zurück, hatte ihn fest am Ohr gefasst und kniff einfach zu. »Hör auf zu schnuffeln, du schmutziger Fleischer.«
»Auaaa … was soll das heißen?«, fragte Rollo, während er verzweifelt versuchte, sein Ohr zu befreien.
»Schnuffeln«, wiederholte sie. »Mädchen anstarren.«
Retra verkniff sich ein Lächeln, als sie Rollos schockierten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Und Fleischer sind Männer ohne Partnerinnen«, fügte Suki hinzu.
»Aber deswegen bin ich doch hier«, sagte Rollo und rieb sich das Ohr. »Um Mädchen anzugucken.«
»Nicht, wenn du mit uns zusammen bist«, sagte Suki. »Das ist unhöflich.« Sie wandte sich an Retra. Ihre Augen glänzten bereits – was auch immer sie im Beichtstuhl geschluckt hatte, es war daran schuld. Wenigstens sprach sie jetzt mit normaler Geschwindigkeit. »Ich habe gerade gehört, dass Markes etwas passiert ist. Die Riper haben ihn aus irgendeinem der Clubs geholt und mitgenommen.«
Retra fasste ihre Hand. »Aus welchem Club?«
»Ravens, nehme ich an.«
Die Bilder der Dämonen, die sie gesehen hatte, flackerten vor Retras geistigem Auge auf. »Wir müssen herausfinden, ob es ihm gut geht.«
»Warum sollten wir?«, fragte Suki mit einem Achselzucken.
»Markes hat mir auf der Fähre geholfen, als Ruzalia mich beinahe entführt hätte.«
Suki klappte die Kinnlade herunter. »Ruzalia, die Piratin? Das hast du mir gar nicht erzählt.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte entrüstet. »Na ja, das ist mal wieder typisch. Ich gehe nicht wieder zurück ins Ravens. Nicht nach dem, was dort passiert ist.«
»Würdest du dann in der Gondelstation auf mich warten?«
Suki sah Rollo an und richtete dann den Blick himmelwärts. »Ich nehme es an.«
Retra lächelte sie an: »Meinst du nicht ›kann sein‹?«
15
Retra musste die Haupttanzfläche im Ravens mehrfach umrunden, bevor sie
Weitere Kostenlose Bücher