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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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Graselle. »Zwar entzieht er dir all deine Energie für die Heilung, aber es reicht nicht. Dein Geist muss ihm helfen.«
    Retra ließ Graselles Worte in ihren Geist strömen und dort herabsinken. »Wie mache ich das?«
    Graselle stand auf und rieb ihren Arm mit einer kühlen, parfümierten Lotion ein. »Solche wie du sollten überhaupt nicht hierherkommen. Die Veränderung ist zu groß für Seals. Doch du hast dich hierfür und gegen deine Gesellschaft entschieden, deshalb musst du schnell lernen, sonst gehst du unter.«
    Lottie strampelte mit den Beinen. Sie stöhnte wieder, dieses Mal vernehmbar. Ein gebrochener Laut. »Gib mir … was … es tut so weh, Graselle. Bitte …«
    »Das verstößt gegen die Regeln.«
    »Bitte hilf ihr«, bat Retra. »Sie klingt …«
    »Nein! Das ist verboten.«
    »Und wenn du an ihrer Stelle wärst?«, fragte Retra flehentlich. »Was, wenn du selbst solche Schmerzen hättest?«
    Sie spürte, dass Graselle zögerte.
    »Ich sehe mal, was ich tun kann.« Sie verschwand durch die Vorhänge.
    »Danke«, keuchte Lottie. Beißender Schweißgeruch wehte von ihr herüber.
    »Was ist mit dir geschehen? Was hast du?«, fragte Retra.
    »Zu hell gebrannt. Ich habe zu viel gesehen.« Dann weinte sie ein bisschen.
    Retra hätte sie gern in den Arm genommen, aber als sie sich aufzusetzen versuchte, sickerte Blut aus der Wunde am Oberschenkel. Da bekam sie Angst und legte sich wieder hin. »Was hast du gesehen?«
    »Ich habe gesehen, was mit uns geschieht … Ich weiß, wo wir hinkommen …«
    »Du meinst, wenn wir abgezogen werden? Du weißt, was das bedeutet?«
    Doch Lottie brabbelte jetzt nur noch unzusammenhängendes Zeug, halbfertige Gedanken über ihre Schwestern und ihr Zuhause, bis sie schließlich in ein leises Gemurmel fiel, das Retra allmählich einlullte. Vielleicht war das Mädchen doch nicht so krank, wie Graselle gesagt hatte. Vielleicht hatte sie nur zu viel von den Aufputschern genommen und würde sich wieder davon erholen.
    Aber dann schoss Lottie plötzlich in die Höhe, stolperte zu Retra herüber und packte sie mit heißen, zitternden Händen, um zu ihr auf das Bett zu klettern. Sie fiel über Retras Brust. Dabei ging ihr Atem rau. »Mama … ich will meine Mama …« Ihr Körper zuckte.
    Retra gehorchte einem Instinkt, der tiefer in ihr verankert war als die Erziehung zur Seal – tiefer als alles, was sie kannte: Sie streichelte ihr über den Rücken, spendete dieser verzweifelten Fremden Trost.
    Nach einer Weile ließen die Zuckungen auch nach, und seufzend schmiegte Lottie das Gesicht an Retras Hals.
    Dann wurde sie schwer und reglos. Für immer reglos.
    Viel zu schnell war Graselle wieder zurück. Retra begriff, dass sie vor dem Vorhang gewartet und gelauscht hatte.
    »Ich – bekomme – keine – Luft«, keuchte Retra.
    Grob zerrte Graselle Lotties Körper von ihr herunter und legte ihn auf das andere Bett. »Ich wusste ja, dass es nicht mehr lange dauern würde. Kurz vor dem Ende werden sie immer alle wütend, und dann wollen sie zu ihrer Mutter. Alle rufen sie nach ihrer Mama.«
    Retra konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie rannen ihr über das Gesicht und den Nacken herunter.
    Mutter.
    Graselle entzündete eine kleine Kerze an der Wand hinter Lotties Bett. »Sie kommen bald. Sie holen sie, wenn sie noch warm ist«, sagte sie, fast als spräche sie zu sich selbst. »Aber wir müssen dich vorbereiten. Ich werde sie bedecken, damit sie dich nicht ablenkt.«
    Aus einer breiten Kommode am Fuß des Bettes zog sie eine Decke und breitete sie über dem toten Mädchen aus.
    Doch auf Retra hatte das keinerlei beruhigende Wirkung. Ihre Zähne klapperten, und aus dem stillen Weinen wurde ein lautes Schluchzen.
    »Sei still!« Graselle gab ihr eine Ohrfeige. »Dir bleibt selber nicht viel Zeit.«
    Retra war alles gleich. Nicht einmal der Gedanke an Joel bedeutete ihr noch etwas. Selbst in Grave kam eine Mutter, wenn man sie rief. Eine Mutter war traurig, wenn man starb.
    Retra wollte nach Hause.
    Graselle schüttelte ihren Arm. »Hör auf damit! Lenoir häutet mich, wenn du stirbst. Er will Brand etwas beweisen.«
    Als Retra nicht aufhörte, schlug Graselle sie erneut und noch einmal, bis das Brennen und die Wucht der Schläge sie aus ihrem Elend rissen und es durch Wut ersetzten. Die Tränen trockneten, und die Seal in ihr kehrte zurück.
    »So ist es besser.« Graselle zog ihr einen Teil der Kleider aus, die sie noch am Leibe trug, damit sie ihren Oberschenkel mit einem

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