Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
Vom Netzwerk:
versuchen, es gewaltsam auszumerzen, andere gehen mit mehr Feingefühl vor.«
    Schuld und Regeln . So war es in Grave. Aber das schien ihr jetzt so unerreichbar. So entfernt. Grave gehörte zu Retra – das war die Person, die sie gewesen war. Nicht zu Naif.
    Graselle redete weiter. »Lenoir kämpft seinen eigenen Kampf. Unter den Wächtern gibt es viele, die ihm seine Stellung neiden. Er muss Brand zeigen, dass er das Sagen hat. Vielleicht verleiht es ihm mehr Ansehen, wenn er eine wie dich – eine Seal – zum Vergnügen bekehrt … oder vielleicht …«
    »W-was?«, krächzte Naif.
    »Vielleicht mag er dich.«
    Naif zwang mehr Worte über die Lippen, um sich von dem Gedanken abzulenken, Lenoir könnte sie attraktiv finden. »Er sagt … ich schulde ihm … mein Leben.«
    Graselle nahm die Waschutensilien und den Eimer und ging zur Tür. »Ja, das stimmt. Aber die ›Schuld‹ gilt für beide Seiten. Er wird von dir bekommen haben, was er brauchte. Aber nun besteht ein Band zwischen dir und Lenoir, und die anderen werden das wissen. Pass auf dich auf.«
    »Woher weißt du das alles?«
    Ein feuchter Schimmer erschien in Graselles Augen. »Er ist diese Verbindung schon früher einmal eingegangen.«
    »Mit dir?«
    »Sprich zu niemandem von diesem Band, verstehst du«, zischte Graselle.
    Anschließend ließ sie Naif allein – allein mit ihren Gedanken und Gefühlen. Etwas war anders, seitdem Lenoir sie geheilt hatte. Sie empfand keine Schmerzen mehr. Aber es war noch mehr als das: Ihr Geist war so leicht und frei, als könnte er davonfliegen.
    »Naif?« Lenoir stand in der Tür und beobachtete sie. Die Eindringlichkeit seines Blicks erregte sie. Sie hatte erwartet, dass sie bei seinem Anblick Abscheu empfand, doch seltsamerweise spürte sie nur Faszination und Dankbarkeit.
    »Ja?«
    »Im Sitzungsraum des Komitees sagtest du, du sähest eine Gefahr für Markes.«
    Naif schob die Füße auf den Boden und setzte sich auf der Bettkante aufrecht. Ihr war ein wenig schwindlig, halb so schlimm. »Es war … ach, nichts«, erwiderte sie. »Du sagtest doch, du wolltest ihn als Köder für Ruzalia benutzen. Ich hatte Angst um ihn, das ist alles.«
    »Warum ist es dir wichtig, was mit ihm passiert?«
    Seine Frage verwirrte sie. »Was meinst du? Warum ist einem überhaupt etwas wichtig? I-ich mag ihn, nehme ich an, und ich w-will nicht, dass ich ihm etwas zustößt.« Das war die Wahrheit. Markes hatte sie vor Ruzalia beschützt und war nett zu ihr gewesen, als Cal sich ihr gegenüber so abweisend gezeigt hatte.
    »In Ixion herrscht Hedonismus. Selbstsucht. Und doch hast du viel riskiert, um anderen zu helfen. Was treibt dich dazu? Das frage ich mich.«
    Schützend schlang Naif die Arme um sich. »Ich bin nicht anders als alle anderen.«
    Er dachte nach. »Vielleicht nicht. Aber die Erleuchtung hat dein Leben gerettet und dich von deinen moralischen Fesseln befreit. Du wirst dich nun anders fühlen. Was mich interessiert, ist, ob du von jetzt an, mit dieser neuen Freiheit, genauso selbstlos sein wirst. Sind es die Regeln und Einschränkungen in deinem Leben, die dich so aufopfernd haben werden lassen? Ist Schuld die Grundlage für deine Freundlichkeit?«
    Er kam zu ihr ans Bett, setzte sich und legte die Hand sanft auf ihren verletzten Oberschenkel – eine vertrauliche Geste. »Ich behalte dich im Auge, dann werde ich es ja sehen. Du bist so weit wiederhergestellt, dass du dich wie zuvor in Ixion bewegen kannst. Es gibt nur einen Unterschied: Das Band zwischen uns. Das heißt, du wirst zu mir kommen, wenn ich es verlange.«
    »Aber warum solltest du das tun?«, fragte Naif.
    Lenoirs Lächeln schien ihr geheimnisvoll. »Das kann ich jetzt noch nicht vorhersehen, aber irgendwann werde ich dich möglicherweise brauchen. Und jetzt sag mir, kleine Naif, was weißt du von Dark Eve und Clash?«
    Als sie den neuen Namen ihres Bruders hörte, begann Naifs Herz zu hämmern. Wusste Lenoir von ihrem Geheimnis? Stellte er mit dieser Frage ihre Aufrichtigkeit auf die Probe? »Ich werde nicht für dich spionieren«, sagte sie schnell.
    Interesse zeichnete sich auf Lenoirs Miene ab. »Das war nur eine Frage.«
    Sie bemühte sich um eine gelassene Miene. Jetzt, da sie nicht mehr diese andere Person – Retra, die Seal – war, fiel es ihr schwerer. »Ich habe sie draußen vor dem Club gesehen, als die Nachtwesen den Jungen geholt haben. Sie sind in ihren Überzeugungen sehr leidenschaftlich«, sagte sie.
    Sie war überrascht, als er seufzte.

Weitere Kostenlose Bücher