Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
hielten ihre Füße fest.
Brand kletterte auf die Steinplatte und setzte sich mit gespreizten Beinen auf Retra. In ihren Augen lag keinerlei Gefühl, als sie die Klinge senkte.
Der erste Stich löste etwas in Retras Geist. Sie strengte sich an, es wieder an seinen Platz zu bringen, doch dann zerbröckelte es.
» NEIN !« Nun schrie sie doch, warf sich hin und her und wehrte sich mit aller Kraft. Verzweifelt.
Doch niemand hörte auf ihren Protest, gespannt verfolgten alle die Bewegungen des Messers.
Es schnitt in ihr Fleisch. Zwei Schnitte, drei … und dann hörte es auf. Brands Finger betasteten die Wunde, die sie ihr zugefügt hatte, und zogen.
In einem warmen Sprühregen riss der Gehorsamkeitsstreifen aus ihrem Oberschenkel.
Heiser juchzend hielt Brand das blutige Ding in die Höhe.
Eine Schwäche erfasste Retra, lockte sie mit Vergessen, ohne Gefühl und Gedanken. Aber eine Stimme riss sie wieder zurück.
»Brand! Was ist das für eine Barbarei?«
Sofort wichen die Riper zurück und ließen die Narbenfrau allein auf ihr hockend zurück.
»Sieh doch, Lenoir. Ich habe sie befreit. Sie stand unter Überwachung. Sie war gehobbelt.«
»Und dazu musstest du sie aufschneiden? Sie verletzen? Was ist mit Erleuchtung, Brand? Wäre das nicht eine bessere Methode gewesen?«
»Warum sollte sie das verdient haben?« Brand fuhr sich mit den Fingern über die Narben im eigenen Gesicht und hinterließ darin Spuren von geronnenem Blut.
»Warum nicht? Sie ist eine Unschuldige.«
Brand warf Lenoir den grausigen Streifen zu. »Unschuld ist nur ein weiterer Zwang. Ixion ist kein Ort für Unschuld.«
»Dummkopf. Du hast ihre Arterie zerrissen! Damit Wunden wie diese heilen, braucht man Tiefschlaf. Dazu ist sie jetzt aber nicht mehr fähig. Petit nuit wird ihr kaum reichen. Du riskierst ihren vorzeitigen Tod. Das darf in Ixion nicht sein. Du wirst für deine Taten bestraft werden!« Die Stimme, die mit solcher Leichtigkeit über weite Entfernungen trug, erfüllte nun den Raum wie eine Welle aus flüssigem Blei, die alles zermalmte, auf das sie traf.
Lenoir versetzte Brand einen Schlag mit der behandschuhten Hand, der die Wächterin zu Boden streckte.
Als sein Blick auf Retra fiel, war ihr, als habe seine sengende Hitze eine reinigende Wirkung. »Graselle, nimm das Mädchen und bereite sie vor«, sagte er.
Retra spürte eine weitere Person an ihrer Seite, trotzdem hielt sie den Blick weiter fest auf Lenoir gerichtet. Er war so schön, so wunderschön … ihn aus dieser Nähe zu sehen, nahm ihr fast den Schmerz.
Oder vielleicht war es auch die Frau mit der brennenden Kerze in der Hand, die auf Lenoirs Geheiß hin langsam näher gekommen war und ihre Hand fest auf die Wunde gepresst hatte …
17
»Retra, hör mir zu. Ich bin Graselle. Wenn du leben willst, musst du erleuchtet werden.«
Retra konnte die Frau zwar hören, aber nicht sehen. Sie lag im Dunkeln hinter einem Vorhang. Immer noch haftete der Weihrauchgeruch aus der Höhle an ihr. Leises Stöhnen erklang ganz in der Nähe. Und, etwas weiter entfernt, Sprechgesang.
Ihr Herz schlug langsam und träge. »Wo – bin – ich?«
»Dies ist ein gesonderter Bereich für die Kranken oder diejenigen, die einen Tod sterben, der nicht vorgesehen ist.«
»Sterbe ich denn?«
»Wenn du Glück hast, ja«, flüsterte eine fiebrige Stimme neben ihr.
Retra drehte den Kopf auf dem Kissen, um zu sehen, wer da zu ihr gesprochen hatte, doch die Dunkelheit war für ihre nur schwach geöffneten Augen zu dicht.
»Halt den Mund, Versagerin«, sagte Graselle. »Du hast unsere Regeln nicht beachtet, Lotti, also bezahlst du dafür.«
»Ein Tier«, flüsterte Lotti. »Mehr bist du doch nicht. Lenoirs Schoßhündchen.« Sie hustete.
»Du hast dich nicht nach Vorschrift ausgeruht, und nun hat dir dein Körper den Dienst versagt. Du konntest nicht genug bekommen, hattest deine Zeit und hast sie zu schnell verbraucht.«
Dann sagten beide nichts mehr.
Langsam vermochte Retra Umrisse auszumachen. Graselle, stellte sie fest, saß am Ende ihres Bettes auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, das blasse Gesicht grau wie der Mond hinter Wolken.
Lottie, das kranke Mädchen, lag neben ihr in einem anderen Bett und hatte die Knie angezogen.
»Ich fühle mich seltsam«, sagte Retra leise. »Schwer. Und etwas schneidet mir ins Bein.«
»Das ist der Stauschlauch. Die Blutung wollte nicht aufhören. Dein Körper wird die Wunde nicht schließen, weil du nicht mehr schlafen kannst«, sagte
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